© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/16 / 08. Juli 2016

„Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung“
Vor 40 Jahren ereignete sich die Dioxin-Katastrophe von Seveso / Erst 1996 reagierte die EU umfassend
Wolfgang Kaufmann

Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht’s – das wußte schon Paracelsus. Der Schweizer Arzt dachte dabei an Arsen, Eisenhut, Schierling oder Tollkirsche, Dioxine waren ihm vor 500 Jahren noch nicht bekannt. Von diesen chlorhaltigen organischen Verbindungen gibt es insgesamt 210. Sie gelten allesamt als krebserregend und sind enorm giftig.

Das toxischste Dioxin ist dabei das 1957 entdeckte 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD). Diese Substanz, die schon in einer Konzentration von einem Millionstel Gramm pro Kilo Körpergewicht töten kann, entsteht als unerwünschtes Nebenprodukt bei Verbrennungsprozessen in Anwesenheit von Chlor und organischem Kohlenstoff, wenn die Temperatur zwischen 300 und 900 Grad Celsius beträgt. In der Natur passiert das manchmal bei Waldbränden und Vulkanausbrüchen, ansonsten geht der TCDD-Ausstoß aber vorwiegend auf das Konto der chemischen Industrie.

So verhielt es sich auch im Falle der Firma Icmesa in der Gemeinde Meda, 20 Kilometer nördlich von Mailand. In dem Tochterunternehmen des Schweizer Duftstoffherstellers Givaudan, der wiederum dem Pharmariesen Hoffmann-La Roche gehörte, wurde Trichlorphenol produziert, das als Vorprodukt für das Desinfektionsmittel Hexachlorophen diente. Hierbei kam es am Samstag, dem 10. Juli 1976, infolge unsachgemäßer Bedienung eines Reaktionskessels zu einem starken Druck- und Temperaturanstieg in dem Behälter, weswegen um 12.37 Uhr das Sicherheitsventil ansprach.

Daraufhin trat eine Wolke aus dem Reaktor aus, die nach Südosten zog und sich auf die angrenzenden Ortschaften Meda, Seveso, Cesano Maderno und Desio legte. Diese Wolke war hochgiftig für Mensch und Umwelt, denn sie bestand nicht bloß aus drei Tonnen des übelriechenden Reizstoffes Trichlorphenol, sondern enthielt auch mehrere Kilogramm TCDD, das seither vielfach nur noch als „Seveso-Gift“ bezeichnet wird.

„Es besteht keine Gefahr für die Bevölkerung, aber man sollte keine Früchte oder Gemüse aus Fabriknähe essen“ – mit diesen Worten versuchten die Icmesa und das La Roche-Management die Todeswolke herunterzuspielen und den Austritt von Dioxin zu verheimlichen. Sogar die Produktion in Meda ging zunächst weiter. Dann freilich verendeten innerhalb weniger Tage 3.300 Rinder und Schafe, die auf den sechs Quadratkilometern geweidet hatten, welche die stärkste Kontaminierung zeigten. Außerdem erkrankten rund 200 Einwohner der Region, meist Kinder, an Chlorakne, was richtigerweise dem TCDD zugeschrieben wurde, nachdem es einem kleinen italienischen Provinzlabor gelungen war, den Giftstoff nachzuweisen.

Totgeburten, Mißbildungen und zahlreiche Krebsfälle

Daraufhin ordneten die Behörden am 26. Juli endlich die Evakuierung der Gefahrenzone an; diese betraf 700 Menschen und dauerte bis zum 2. August. Doch damit nahm die Reihe der schweren Pannen rund um den Seveso-Unfall noch lange kein Ende. So verschwanden 1982 alle 41 Metallfässer mit dem brisanten Restinhalt des Havariekessels 101 beim Transport durch Frankreich, ehe sie im Jahr darauf im alten Schlachthof von Anguilcourt-le-Sart in der Nordostregion Picardie auftauchten, wo die Spediteure sie „vergessen“ hatten.

Strittig ist, ob der Giftmüll wirklich in einem Spezialofen der Firma Ciba-Geigy in Basel verbrannt wurde oder vielleicht auf der mecklenburgischen Sondermülldeponie Schönberg landete, um der klammen DDR Devisen zu bescheren. Das behauptet der Physiker und Journalist Ekkehard Sieker. Auch, daß in Seveso „nebenbei“ Grundstoffe für militärische Zwecke hergestellt wurden, wird von ihm nicht ausgeschlossen.

Zum Trauerspiel geriet auch die Entschädigung der Einwohner von Seveso und Umgebung: die Icmesa, Givaudan und La Roche zahlten zunächst nur umgerechnet zehn Millionen Euro. Dann erhöhte sich der Betrag aufgrund diverser Klagen von Betroffenen auf 300 Millionen Schweizer Franken, was ebenfalls sehr sparsam bemessen war. Immerhin mußten ja viele Gebäude abgerissen und riesige Mengen Erde abgetragen werden. Dazu kam eine Verdopplung der Tot- und Fehlgeburten in den Jahren danach – zusätzlich zum drastischen Anstieg der Mißbildungen bei Kindern und der Krebsfälle unter Erwachsenen.

Die Verantwortlichen kamen eher glimpflich davon. Zwar erhielten Jörg Sambeth, der verantwortliche Techniker von Givaudan für die Icmesa, und vier weitere leitende Mitarbeiter des Chemieunternehmens, darunter Direktor Herwig von Zwehl, Haftstrafen von bis zu fünf Jahren, saßen diese aber nie ab, da die mutmaßlich beeinflußten Berufungsrichter plötzlich auf Fahrlässigkeit statt auf Vorsatz erkannten. Deshalb mußte letztendlich nur Paolo Paoletti, der Produktionsleiter der Icmesa, für den Störfall büßen – und zwar mit seinem Leben: am 2. Februar 1980 fiel er einem Pistolen-Attentat der linksradikalen Terrororganisation Prima Linea zum Opfer, was insbesondere die Jugend in der Lombardei mit Begeisterung quittierte.

Allerdings zeitigte die Katastrophe von Seveso letzlich auch eine positive Konsequenz. Sie veranlaßte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur Verabschiedung der Richtlinie 82/501/EWG „über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten“ (Seveso-I-Richtlinie). Darin wurden sämtliche Betreiber von Chemieanlagen verpflichtet, die Behörden im Havariefall umgehend und wahrheitsgemäß zu informieren. Dem folgte erst 1996 – nach der verheerenden Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal 1984 und weiteren Vorkommnissen – die Richtlinie 96/82/EG (Seveso-II), die unter anderem zusätzlich festschrieb, daß für einen angemessenen Sicherheitsabstand zwischen Wohngebieten und gefährlichen Industriebetrieben zu sorgen sei. Diese Vorschrift gilt noch heute in der Fassung 2012/18/EU (Seveso-III).





Europäische Chemiekatastrophen

Das Sevesounglück war nicht die einzige große Chemiekatastrophe in Eu­ropa. Am 1. November 1986 ereignete sich in einer Lagerhalle der Schweizer Sandoz AG bei Basel ein Großbrand. Über das Löschwasser gelangten Giftstoffe in den Rhein, was ein großes Fischsterben auslöste. Am 25. April 1998 brach der Damm des Absetzbeckens der Zink- und Bleimine Los Frailes bei Sevilla in Andalusien. Der Giftschlamm gelangte in den Río Agrio, auf Felder und bis zum Nationalpark Coto de Doñana, wo ein dreistelliger Millionenschaden entstand. Am 30. Januar 2000 brach in Frauenbach (Nagybánya/Baia Mare, Region Sathmar/Rumänien) der Damm einer Golderz-Aufbereitungsanlage. Die Giftbrühe gelangte in Theiß und Donau: Tausende Tonnen Fische starben, und auch in Ungarn wurde das Grundwasser verseucht (JF 9/00). Beim Dammbruch am 4. Oktober 2010 in der Aluminiumhütte MAL bei Korntal (Kolontár) nördlich des Plattensees in Ungarn wurden nicht nur 40 Quadratkilometer Land mit Rotschlamm verseucht. Der Unfall forderte zehn Menschenleben, 150 Menschen wurden verletzt.

Dioxin-Portal des Umweltbundesamtes:  umweltbundesamt.de/