© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Viele Täter, wenig Sühne
Sexuelle Übergriffe I: Noch immer sind die Ereignisse der Silvesternacht nicht vollends aufgeklärt / Das Bundeskriminalamt ermittelt weiter
Christian Schreiber

Das Ausmaß der sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht ist nach einem Bericht des Bundeskriminalamtes weitaus größer, als zunächst angenommen wurde. Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, waren mehr als 2.000 Männer beteiligt. Allerdings wurden bisher nur rund 120 Verdächtige ermittelt. „Wir müssen davon ausgehen, daß viele dieser Taten auch im Nachgang nicht mehr ausermittelt werden“, erklärte BKA-Präsident Holger Münch. Das BKA bezeichnet die Sexualstraftaten, die unter dem Begriff des Antanzens bekannt wurden, als neues Phänomen und hat die Ermittlungen daher an sich gezogen, um alle Daten zentral sammeln und verarbeiten zu können. Dennoch geht BKA-Chef Münch nicht davon aus, daß es sich um gezielte, verabredete Aktionen gehandelt habe. In den Bericht eingeflossen sind auch von Gruppen begangene Sexualstraftaten oder Eigentumsdelikte im öffentlichen Raum, bei denen die Opfer beraubt oder bestohlen wurden und die dem sogenannten „Antanzdiebstahl“ ähneln, heißt es in einer am Montag ausgestrahlten ARD-Dokumentation. Das BKA betont, daß die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind. 

Bekannt wurden einige Tage nach dem Jahreswechsel zunächst die Übergriffe auf der „Domplatte“ in Köln, wenig später erschienen auch die ersten Meldungen über vergleichbare Vorfälle in Hamburg. Allein in Köln, Düsseldorf und Bielefeld registrierte die Polizei in Nordrhein-Westfalen 1.076 Straftaten, darunter 692 Körperverletzungs- und Eigentumsdelikte sowie 384 Sexualdelikte. 116 Taten wurden dem Bericht zufolge in „Kombination mit Eigentumsdelikten begangen“. In der Hansestadt kam es in der Silvesternacht zu 195 gemeldeten Übergriffen. Bei den meisten habe es sich um Sexualdelikte gehandelt. 

Von einigen dieser Straftaten in der Silvesternacht waren mehrere Frauen gleichzeitig betroffen, so daß das BKA auf eine Zahl von deutschlandweit insgesamt etwa 1.200 Opfern sexueller Übergriffe kommt. Absoluter Spitzenreiter ist Köln mit 650 attackierten Frauen. 

Mit der Aufarbeitung dort beschäftigt sich seit einigen Monaten ein Untersuchungsausschuß im Landtag. Er soll vor allem die Frage klären, warum die Meldungen erst so spät veröffentlicht wurden und es von seiten der Polizeiführung und der Landesregierung Anweisungen gab, die Angelegenheit womöglich gar unter den Teppich zu kehren. Nachdem Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und Innenminister Ralf Jäger (beide SPD) schon vorgeladen wurden, will der Untersuchungsausschuß auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) vernehmen.

Der Ausschuß erhofft sich nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Erkenntnisse darüber, wie viele Bundespolizisten in der Nacht am Kölner Hauptbahnhof im Einsatz waren und warum eine eigentlich vorgesehene Flutlichtanlage nicht auf dem Vorplatz installiert worden war.

Ausschußmitglieder beklagten wiederholt, die Vertreter der Politik seien quer durch die Bank wenig kooperativ. Man sei auf eine „Mauer des Schweigens gestoßen“, sagte beispielsweise der SPD-Obmann Hans-Willi Körfges, der den Bundesinnenminister ins Visier nimmt. „Wie viele Bundespolizisten waren Silvester für den Einsatzabschnitt Hauptbahnhof Köln im Einsatz und wie viele sind es heute? Der Bundesinnenminister darf nicht länger schweigen.“ Der Spiegel hatte vor wenigen Wochen darüber berichtet, daß es in den Reihen der Bundespolizei erhebliche Kritik an der personellen Ausstattung gebe. Rund um den Kölner Dom sei nach einer anfänglichen Aufstockung „wieder Alltag“ eingekehrt.

Die Kölner Staatsanwaltschaft teilte unterdessen mit, daß sie gegen 204 Personen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet habe. Mehr als die Hälfte der Beschuldigten stammen demnach aus Algerien und Marokko, 55 von ihnen seien noch minderjährig oder heranwachsend gewesen. Ob es zu einer Anklage kommt, ist laut Aussage von Münch zweifelhaft: „Diese Dinge sind einfach sehr schwierig nachzuweisen.“ Bislang hat es nur vier Verurteilungen gegeben. In Düsseldorf und Nürtingen wurden Haftstrafen verhängt, in Köln wurden zwei Männer zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. In Köln und Hamburg hat es mittlerweile auch die ersten Freisprüche gegeben, in der Hansestadt sind zudem alle Festgenommenen wieder aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Als Gründe für diese dürftige Bilanz sieht das BKA Ermittlungshemmnisse: „Es hat kein geeignetes Bildmaterial gegeben, die Frauen konnten die Täter nur schlecht beschreiben“, sagte Münch. 

Anders als Bundesjustizminister Heiko Maas geht der BKA-Chef nicht davon aus, daß es sich um eine neue Form der Organisierten Kriminalität handele. Während Maas im Januar recht voreilig von „Bandenkriminalität“ sprach, sagte Münch nun, daß es „keine Erkenntnisse“ gebe, daß die Straftaten verabredet worden seien. Auffallend sei aber der hohe Anteil an nordafrikanischen Verdächtigen. „Insofern gibt es schon einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Phänomens und der starken Zuwanderung gerade 2015.“ Mehr als die Hälfte der Tatverdächtigen hielt sich erst rund ein halbes Jahr in der Bundesrepublik auf.