© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Akte zu, Fall vom Tisch
Diebstahl, Sachbeschädigung, schwere Körperverletzung, sexueller Mißbrauch in Dutzenden Fällen – und die Täter haben nicht viel zu befürchten: JF-Reportage über den Umgang der deutschen Justiz mit Massendelikten, von denen die Öffentlichkeit meist nichts erfährt
Hinrich Rohbohm

Dirk Evers will es wissen. Er will Klarheit über seinen Fall vom Dezember vorigen Jahres, als er in Hannover Opfer einer körperlichen Attacke geworden war, durch die sowohl er als auch sein Auto in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Inhaber einer Tischlerei sitzt hinter dem Schreibtisch seines Büros und tippt die Nummer der Staatsanwaltschaft Hannover in sein Mobiltelefon. Eine Frauenstimme meldet sich. Evers nennt die Geschäftsnummer, die ihm die Behörde zugewiesen hat. NZS 7552 Js 23194/16 lautet die Chiffre für seinen Fall. Nein, die zuständige Amtsanwältin sei nicht zu sprechen, wird ihm mitgeteilt. Sie arbeite nur halbtags, er möge vormittags nochmal anrufen.

Sein Fall, das ist ein Ermittlungsverfahren gegen Jemshir M. Von M. war Dirk Evers am 2. Dezember vorigen Jahres in Hannover-Langenhagen angegriffen worden. „Ich wollte gerade mit meinem Kleinbus von einem Parkplatz fahren, als mir eine südländisch aussehende Familie entgegenkam“, erinnert sich Evers. Der Mann habe eine orientalische Kopfbedeckung getragen. Hinter ihm waren zwei Frauen, beide mit einer Burka verhüllt. Der Mann gestikuliert wild, bedeutet dem Tischler, zur Seite zu fahren. Aber das sei nicht möglich gewesen, sagt Evers. „Der Parkplatz war sehr voll und die Fahrgasse sehr eng.“ Er hält den Wagen an. Schimpfend und unter lautem Geschrei habe sich die Familie an dem Kleinbus vorbeigezwängt. Dann fährt Evers auf die Straße, ordnet sich in den Verkehr ein und hält vor einer roten Ampel. Plötzlich hört er zweimal ein lautes Krachen. „Ich konnte das nicht deuten und dachte, es sei jemand gegen unser Fahrzeug gefahren.“ Er steigt aus. Sofort packt ihn jemand am Hals, zerreißt sein Hemd, reißt ihm Haare aus, greift ihm in die Nase.

Zur gleichen Zeit stehen zwei Handwerker auf einem Baugerüst neben der Fahrbahn. Sie werden Zeuge des Vorfalls, sehen, wie der Mann mit der orientalischen Kopfbedeckung hinter dem Kleinbus hergesprintet ist. Als dieser bei der Ampel zum Stehen kommt, tritt er gegen das Wagenblech und schlägt gegen das Schiebetürfenster des Fahrzeugs. Dann geht er auf den aussteigenden Fahrer los, schlägt auf ihn ein. Der Tischler setzt sich mit einem Faustschlag zur Wehr. Seine Nase und sein Hals bluten. Später im Krankenhaus stellen die Ärzte fest, daß sein Mittelhandknochen dreifach gebrochen ist. Als der Täter flüchten will, kommen die beiden Handwerker zu Hilfe, halten den Mann fest. Die Polizei ist schnell vor Ort. „Chef, ich habe nichts gemacht“, beschwört der Täter. Opfer und die beiden Handwerker widersprechen, erzählen den Beamten, was sie mitbekommen haben. „Der hat mich angeguckt, da hab ich mich provoziert gefühlt“, verteidigt sich der Südländer nun. Die Polizei nimmt die Zeugenaussagen auf, macht Fotos von den beschädigten Stellen am Kleinbus und von den Verletzungen des Opfers.

Die Beweislage ist eindeutig. Dirk Evers stellt einen Strafantrag. Fast fünf Monate sollten vergehen, bis er Post von der Staatsanwaltschaft Hannover bekommt. Der Inhalt sorgt für Frust bei dem Tischler. „Nach eingehender Prüfung des Sachverhaltes habe ich das Ermittlungsverfahren mit Zustimmung des Amtsgerichts Hannover im Hinblick auf nicht vorliegende einschlägige Vorstrafen, eine nicht zu widerlegende Ausnahmesituation und die hinreichende Warnung, die von diesem Verfahren ausgehen dürfte, nach Paragraph 153 Absatz 1 StPO eingestellt, weil die Schuld als gering anzusehen ist und ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung nicht besteht“, teilt ihm die Staatsanwaltschaft mit.

„Staatsanwälte und          Verfahren kosten Geld“

Dirk Evers kann es nicht glauben, wendet sich an seinen Rechtsanwalt. Der kann den Unmut seines Mandanten gut nachvollziehen. „Im umgekehrten Fall hätten Sie hier mit Sicherheit mit der Durchführung eines Strafverfahrens rechnen müssen. Es ist erschreckend und stützt auch nicht gerade das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn offenbar systematisch bei Straftaten von Ausländern immer wieder die Justiz ‘ein Auge zudrückt’“, schreibt ihm der Jurist.

Die Staatsanwaltschaft könne Verfahren nach Paragraph 153 der Strafprozeßordnung (StPO) einstellen, wenn es sich nicht um schwerwiegende Taten handele, erklärt ihm sein Anwalt, fragt sich aber selbst, warum eine vorsätzliche Sachbeschädigung und erhebliche Körperverletzung von der Behörde nicht dazugezählt werden. Noch frustrierender für Evers: Gegen diese Form der Verfahrenseinstellung gibt es keinen förmlichen Rechtsbehelf. Zwar könne er Dienstaufsichtsbeschwerde einlegen. Deren Erfolgsaussichten seien jedoch „äußerst gering“.

„Und jetzt stellen Sie sich mal vor, ich würde einen Schwarzafrikaner aus dem Auto ziehen, was glauben Sie, was da los wäre“, kritisiert Dirk Evers. Der Schaden an seinem Auto hat ihn 1.380 Euro gekostet. Seinen für zwei Wochen später geplanten Urlaub auf Gran Canaria mußte er mit einer Schiene am Arm antreten. „Und da haben Sie mir dann auch noch mein Handy geklaut“, gibt sich Evers restlos bedient von jenem Monat. Am schlimmsten war für ihn jedoch, daß sein einjähriger Sohn den Vorfall mit dem Angreifer mit ansehen mußte. „Meine Frau saß zusammen mit ihm auf dem Rücksitz und hatte um Hilfe geschrien“, schildert Evers den dramatischen Moment gegenüber der JF.

Taten, die in Deutschland zum Alltag gehören. In den Medien werden sie nur selten thematisiert, weil sie nicht spektakulär genug sind. Und weil Ermittlungsverfahren wie im Fall von Dirk Evers zumeist eingestellt werden. Keine Anklage, kein Prozeß. Kein Prozeß, keine Öffentlichkeit. Begebenheiten, die längst zur Normalität geworden sind. Und die auch an den beteiligten Juristen keinesfalls spurlos vorbeiziehen.

In der Cafeteria des Hamburger Landgerichts finden sich zur Mittagspause viele von ihnen ein. Strafverteidiger, Richter, Staatsanwälte. Hier, zwischen Geschirrgeklapper, Essensdampf und Kartoffelklößen redet sich so mancher Verfahrensbeteiligter seinen Frust von der Seele. Da ist der Rechtsanwalt, der für seinen Mandanten einen Freispruch erwirkt, obwohl er weiß, daß dieser eigentlich hinter schwedische Gardinen gehöre. Seine Gewissensbisse darüber ertränkt er in Alkohol. Und da ist der Staatsanwalt B., der gegenüber der JF sein Leid von der chronischen Unterbesetzung seiner Behörde klagt. „Wenn wir jedem Fall akribisch nachgingen, würden wir in den Aktenbergen ersticken“, sagt der Jurist, der anonym bleiben möchte. Ist ein Verfahren hingegen eingestellt, sei der Fall vom Tisch und die Akte geschlossen. Für so manchen Kollegen eine verlockende wie notwendige Maßnahme. Und für die Politik ein Fall weniger, der sich ungünstig auf die Kriminalitätsstatistik auswirken könnte.

„Der Punkt ist doch, daß es überall an Personal fehlt. Staatsanwälte kosten Geld, Gerichtsverfahren kosten Geld, und Gefängnisse müssen auch finanziell unterhalten werden. Und weil der Staat chronisch pleite ist, wird eben hier gespart, anstatt an sozialen Wohltaten, wo alle möglichen Interessengruppen auf die Barrikaden gehen würden“, erklärt der Staatsanwalt. Leidtragende seien die Opfer, die sich vom Staat zunehmend im Stich gelassen fühlten und deren Vertrauen in den Rechtsstaat schwinde.

Bei einem Schaden unter  50 Euro passiert gar nichts

So wie im Fall des Supermarktangestellten Dennis O., der ebenfalls anonym bleiben möchte, weil sein Arbeitgeber die Belegschaft angewiesen hat, nicht mit der Presse über die tagtäglichen Ladendiebstähle zu sprechen, die sich vor den Augen der Mitarbeiter abspielen.

Es ist der 11. Juni dieses Jahres, als O. auf seinem Video-Bildschirm im Büro zwei Männer erblickt, die einen Einkaufswagen randvoll mit Bohnenkaffee vor sich herschieben. Aus Erfahrung weiß er: Hier soll ein Diebstahl erfolgen. Über das Marktmikrofon ruft der stellvertretende Abteilungsleiter um Hilfe. Dann läuft er aus seinem Büro Richtung Ausgang, um die vermuteten Täter dort mit der Ware abfangen zu können. Auf dem Weg verständigt er über sein Mobiltelefon die Berliner Polizei, fordert einen Einsatz mit Sonderrecht. „Den kann man verlangen, wenn Gefahr im Verzug ist“, erklärt er der JF. „Mache ich das nicht, kann es schon mal eine Stunde dauern, bis die Polizei erscheint.“ So seien innerhalb weniger Minuten drei Streifenwagen vor Ort gewesen.

Doch zunächst laufen die Täter mit der unbezahlten Ware an der Kasse vorbei. O. stellt sich den beiden entgegen. Der Größere von beiden sei sofort aggressiv geworden. „Nee, den läßt du jetzt laufen“, sagt sich der 21jährige und konzentriert sich auf den Schmächtigeren. Der wird ebenfalls aggressiv, es kommt zur Rangelei, die der Angestellte für sich entscheidet. Aufgrund seiner schlechten Erfahrungen mit Ladendieben hat O. Selbstverteidigungskurse belegt, schaut sich zudem Kampfvideos an. „Der Sicherheitsdienst ist nur sporadisch vorhanden, etwa einmal die Woche.“ Aus Kostengründen.

Als die Polizei eintrifft, bringt er den Ladendieb zusammen mit den Beamten und weiteren Kollegen ins Lager, um ihn dort zur Rede zu stellen. Der Täter leistet erbitterten Widerstand. Immer wieder rempelt er die Polizisten an, versucht zu fliehen. Die Beamten müssen ihm Handschellen anlegen. O. kennt dieses Verhalten, hat es auch schon bei anderen Dieben gesehen. „Der hat Tilidin genommen“, ist er sich sicher. Eine Droge, durch die man kaum noch Schmerzen spüre, seinen Körper aber voll unter Kontrolle habe.

O. füllt die Anzeige gegen den Täter aus, einen 26 Jahre alten mehrfach und einschlägig vorbestraften Polen, wie die polizeilichen Ermittlungen ergeben. Der Diebstahl hat einen Warenwert von 310 Euro. „Unter 50 Euro passiert gar nichts, da wird der Täter einfach wieder laufengelassen.“ Darüber hingegen werde es strafrelevant. Und so sollte der Täter eigentlich dem Haftrichter vorgeführt werden. Weil der Pole jedoch noch schwerwiegendere Taten begangen habe, würde der Diebstahl nicht mehr ins Gewicht fallen, und sie müßten ihn wieder laufen lassen, sagen die Beamten zu O. „Sie haben ihm die Handschellen abgenommen und gehen lassen“, schildert der Angestellte. „Nun wird er nächste Woche den nächsten Laden ausrauben“, beklagt er sich bei den Beamten.

Dennis O. arbeitet seit eineinhalb Jahren in dem Supermarkt. „Etwa 100 bis 120“ Ladendiebstähle habe er in der Zeit miterlebt. „Festgenommen wurde von denen nur einer“, erzählt er. Es ist eine fatale Botschaft, die Tätern übermittelt wird: Sie können Waren stehlen, ohne eine Strafe fürchten zu müssen. Erst recht bei einem Wert unter 50 Euro. Die Supermarktketten würden das stillschweigend in Kauf nehmen, meint O. Und: „Die entstandenen Verluste werden durch Preiserhöhungen an die Kunden weitergegeben.“ Einer der Gründe dafür, weshalb die Konzernleitung es nicht gern sieht, wenn Mitarbeiter mit Außenstehenden über diese Vorfälle sprechen.

Der Vergewaltiger kommt mit Bewährung davon

Daß selbst sexueller Mißbrauch in 54 Fällen nicht ausreichen kann, um hinter Schloß und Riegel zu kommen, konnte im vergangenen Monat der 40 Jahre alte Nicola M. erfahren, der sich deswegen vor dem Landgericht Saarbrücken zu verantworten hatte. Zwei Jahre lang hatte er sich an dem zu Beginn 15 Jahre alten Sohn ehemaliger Freunde vergangen. Seine Anwältin hatte mit Richter und Staatsanwaltschaft einen „Deal“ ausgehandelt: Bei einem Geständnis des Angeklagten würde dieser maximal zwei Jahre auf Bewährung erhalten und eine Sexualtherapie auferlegt bekommen. Der Beschuldigte sagte aus und blieb ein freier Mann, obwohl er schon einmal wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Die aber liege bereits 15 Jahre zurück.

Blicke in die Verhandlungssäle von Amtsgerichten in Deutschlands Großstädten jenseits der von Pressestellen angekündigten Fälle machen deutlich, wie weitreichend Straftaten verübt werden können, ohne dafür befürchten zu müssen, hinter Gitter zu gelangen.

Da ist etwa der Fall eines 27 Jahre alten Tunesiers, der sich vorigen Monat wegen Vergewaltigung einer 23jährigen Deutschen vor dem Bremer Amtsgericht zu verantworten hatte. Keine Gesten der Entschuldigung, keine Zeichen der Reue in Richtung des Opfers, dem die Aussage sichtlich schwerfiel. Der Täter ist vorbestraft, wenn auch nicht einschlägig. Sein Opfer hatte er stundenlang in seiner Wohnung festgehalten. Trotzdem sollte er erneut mit einer Bewährungsstrafe und mahnenden Worten der Richterin davonkommen.

Und bei einem 45 Jahre alten Türken mit deutscher Staatsangehörigkeit, der einem Familienvater in einer Hannoveraner Gaststätte eine Kopfnuß verpaßt hatte, wurde das Verfahren während der Hauptverhandlung in Hannover gleich ganz eingestellt. Wegen Schuldunfähigkeit. Alkohol sei im Spiel gewesen. Der Täter hat Blickkontakt zu seinem Opfer, zeigt ihm ein kurzes hämisches Grinsen nach Verkündung der Einstellung. Der Geschädigte reagiert mit einem Kopfschütteln. „Ich habe mein Vertrauen in den Rechtsstaat verloren“, sagt er der JF. Er sei kein Freund von Gewalt. „Aber von jetzt an werde ich mir auch Pfefferspray zulegen“, sagt er trotzig und verläßt sichtlich verärgert den Amtsgerichtssaal.





Paragraph 153 StPO: Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit

1) Hat das Verfahren ein Vergehen zum Gegenstand, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des für die Eröffnung des Hauptverfahrens zuständigen Gerichts von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Der Zustimmung des Gerichtes bedarf es nicht bei einem Vergehen, das nicht mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht ist und bei dem die durch die Tat verursachten Folgen gering sind.

(2) Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht in jeder Lage des Verfahrens unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten das Verfahren einstellen. Der Zustimmung des Angeschuldigten bedarf es nicht, wenn die Hauptverhandlung aus den in § 205 angeführten Gründen nicht durchgeführt werden kann oder in den Fällen des § 231 Abs. 2 und der §§ 232 und 233 in seiner Abwesenheit durchgeführt wird. Die Entscheidung ergeht durch Beschluß. Der Beschluß ist nicht anfechtbar.