© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Dauerbrenner der Lüfte
Boeing-Konzern: Vor 100 Jahren gründete Wilhelm Böing den bis heute weltgrößten Flugzeugbauer / Die militärische Aufrüstung der USA und die globale Massenmobilisierung sorgen für volle Auftragsbücher
Fabian Schmidt-Ahmad

Wer ein neues Smartphone sucht, hat nur noch die Wahl zwischen drei US-Betriebssystemen: Android (Google), iOS (Apples iPhone) oder Windows. Luftfahrtgesellschaften, die Passagierflugzeuge mit mehr als 110 Sitzplätzen kaufen wollen, steht ein Duopol gegenüber: der europäische Hersteller Airbus und der amerikanische Konkurrent Boeing. Soll es „Made in Germany“ sein, bleibt nur der A320, der in Hamburg endmontiert wird.

Die anderen Airbusmodelle kommen aus Toulouse – allerdings ebenfalls gefertigt mit einer Vielzahl deutscher Komponenten. Auch Boeing ist ursprünglich „deutsch“: Am 15. Juli 1916 gründete Wilhelm Eduard Böing die Pacific Aero Products Company – heute als Boeing Company mit 160.000 Mitarbeitern und angepeilten 100 Milliarden Dollar Umsatz der weltgrößte Flugzeugproduzent.

Deutsche Mithilfe für die amerikanische Flugindustrie

Der Sohn des Auswanderers Wilhelm Böing aus dem Sauerland und der Wienerin Marie Ortmann leitete zunächst den florierenden Holzverarbeitungsbetrieb seines Vaters, als er auf einer Fachtagung 1909 ein Motorflugzeug erlebte. Aus der so entfachten Liebhaberei wurde bald ein Geschäft: Am 15. Juni 1916 hob das Wasserflugzeug „Bluebill“ zu seinem Jungfernflug ab. Auch die erste Boeing-Serie hat deutsche Wurzeln: Am 1. Februar 1917 nahm das Deutsche Reich den U-Bootkrieg wieder auf, was die USA zwei Monate später zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg nutzten: Die US Navy bestellte 50 Stück von Boeings „Model 5“ als Übungsflugzeuge.

Die Friedenszeit mit vielen ausgedienten Militärflugzeugen war für Boeing zunächst hart. Die Firma erinnerte sich ihrer Wurzeln im Bootsbau und stattete Schnellboote mit Flugmotoren aus. Daß unter den Boeing-Kunden Alkoholschmuggler waren, die mit den rasenden Booten der von 1920 bis 1933 geltenden Prohibition davonfuhren, ist nicht auszuschließen. Durch Aufkauf und Gründung mehrerer Fluggesellschaften gelang Boeing mit anderen Herstellern sogar die Etablierung eines Quasikartells im US-Lufttransportwesen.

Aber der Air Mail Act von 1934, der Flugzeugproduzenten den Besitz von Fluggesellschaften verbot, zwang Boeing dazu, sich von seinen Beteiligungen zu trennen. Verbittert zog sich der Firmenchef immer mehr ins Privatleben zurück. Als er 1956 nur 74jährig an Bord seiner Jacht auf dem Puget Sund nahe der Firmenzentrale in Seattle starb, war sein Unternehmen längst ein Gigant geworden und letztlich ebenfalls dank – unfreiwilliger – deutscher „Mithilfe“.

1935 bewarb sich Boeing mit einem Prototyp an einer Ausschreibung der US-Luftwaffe für einen Horizontalbomber großer Reichweite. Vier Jahre später wurde das überarbeitete Modell als B-17 vom Militär übernommen. In riesigen Hallen, deren Dächer als Kleinstädte aus Sperrholz getarnt waren, wurden jeden Tag bis zu 16 Flugzeuge gebaut. Mit einer möglichen Flughöhe von 12.000 Metern und einer Druckausgleichskabine stellte die „Flying Fortress“ einen Quantensprung dar, 1942 noch übertroffen von der B-29 „Superfortress“, dem größten Bomber des Zweiten Weltkrieges.

Zwei B-29 waren es auch, die über Hiroshima und Nagasaki die beiden Atombomben abwarfen. Der Kalte Krieg mit der Sowjetunion und das Prinzip der nuklearen Abschreckung erforderten aber eine neue Generation von Bombern – und ermöglichten Boeing neue Traumumsätze: Durch das Konzept der Luftbetankung konnten US-Bomberflotten permanent an den Außengrenzen des einstigen Alliierten patrouillieren – und die B-52 „Stratofortress“ läutete 1952 das Jetzeitalter ein. Ob die acht Düsentriebwerke der B-52 nur eine Weiterentwicklung von Junkers Jumo 004 (Antrieb der Messerschmitt Me 262 und des Bombers Arado Ar 234) sind, wird sich wohl nie nachweisen lassen. Fakt ist allerdings: Die B-52 steht bis heute sinnbildlich für die militärische Potenz der USA, von den Flächenbombardements in Vietnam bis zur aktuellen Bekämpfung von IS-Basen. Boeings Stellung innerhalb des militärisch-industriellen Komplexes wird auch durch die KC-135 „Stratotanker“ deutlich, die sechs Jahrzehnte nach ihrem Erstflug noch im Dienst sind.

Die 737 ist die erfolgreichste Passagiermaschine der Welt

Die starke Präsenz im Militärsektor ermöglichte Boeing schließlich auch seine Vormachtstellung bei Zivilflugzeugen: Die 707, mit der Boeing 1957 seine erfolgreiche Serie der „Siebener“-Passagier- und Frachtflugzeuge begann, war die Zivilvariante der KC-135. Daß die 737 mit bislang über 9.000 ausgelieferten Exemplaren und aktuell 4.428 weiteren Bestellungen das erfolgreichste Flugzeug der Welt ist, ist ebenfalls deutscher Schützenhilfe zu verdanken: Erstkunde war 1968 die Lufthansa. Die mit jährlich über 100 Millionen Passagieren und 357 Jets größte Fluggesellschaft Europas, die irische Ryanair, hat sogar ausschließlich 737 im Einsatz.

1969 präsentierte Boeing die 747, von der inzwischen über 1.500 Stück gefertigt wurden. Mit dem „Jumbo“ und dessen bis 2007 (der Erstauslieferung des doppelstöckigen Airbus A380) unübertroffener Passagierkapazität (über 500 Sitze) begann die Ära der Massenmobilisierung zu Luft. Erster europäischer 747-Kunde war erneut die Lufthansa. Den vierstrahligen Jet mit dem charakteristischen Buckel zu besitzen, war lange Zeit eine Frage des Prestiges. Boeing, so schien es, herrschte in einem Reich, wo die Sonne niemals untergeht.

Doch in der Alten Welt regte sich Widerstand. Und mit Dornier oder Messerschmitt gehörten auch einstige „Kriegsgegner“ zu den Initiatoren des Airbus-Konsortiums, welches sich 1965 aufmachte, die Übermacht des Hegemons zu brechen. Mit dem 1987 erstmals gestarteten Mittelstreckenflugzeug A320 ist dem Dauerbrenner 737 ein veritabler Konkurrent erwachsen: über 7.000 Stück der 320er-Famile wurden bislang in Dienst gestellt. Doch Boeing schläft nicht. 1997 wurde der einstige US-Rivale McDonnell Douglas übernommen, was aber nicht verhindern konnte, daß Airbus 2001 erstmals mehr Flugzeugbestellungen verbuchen konnte. Die A380 mit bis zu 853 Sitzplätzen löste die 747 war als weltweit größtes Passagierflugzeug ab, aber mit bislang 190 ausgelieferten Exemplaren erfüllte der Absatz nicht die Airbus-Erwartungen – der A380-Einsatz ist nur für große Drehkreuze sinnvoll.

Boeings komfortoptimierter, aber kleinerer „Dreamliner“ (787) wurde seit 2009 schon 415mal gebaut und ist – trotz technischer Schwierigkeiten mit der Elektrik – ein Verkaufsschlager. Die A380-Produktion konnte erst dieses Jahr schwarze Zahlen schreiben. Mit dem auf der ILA 2016 präsentierten 787-Wettbewerber A350 will Airbus seinen Rückstand aufholen – doch der französische Innenaussatter Zodiac Aerospace hat Lieferprobleme. Airbus hat 2015 1.080 Bestellungen verzeichnet, Boeing nur 768. Im ersten Halbjahr 2016 sah es anders aus: Airbus 183, Boeing 288.

Für Boeing-Aktionäre ist die hundertjährige Firma ein goldenes Investment: 2015 erzielte die Boeing Company bei 96,1 Milliarden Dollar Umsatz ein operatives Ergebnis (Ebit) von 7,4 Milliarden. Wer vor zwölf Jahren Anteile des weltgrößten Flugzeugbauers erwarb, hat seinen Einsatz heute mehr als verdreifacht. Goldkäufer stehen auch nicht viel besser da. Airbus-Aktionäre verdoppelten ihr Wagniskapital immerhin. Wer hingegen auf politisch einflußreiche und vermeintlich seriöse Finanzwerte wie Citigroup, Commerz- oder Deutsche Bank setzte, hätte wohl besser sein Geld für Reisen in einem Flieger aus den Hause Wilhelm Böings ausgegeben.

Offizielle Geschichte des Boeing-Konzerns: www.boeing.com/