© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Keine Insel der Seligen
Mal kurz nach Kanada ausgewandert: Natur, Einsamkeit, urnette Menschen – New Brunswick hat viel zu bieten, doch es ist nicht alles Gold, was glänzt
Stefan Michels

Mal kurz nach Kanada auswandern? Nichts leichter als das. Nachdem ich eine Arbeitsstelle in Kanada erhalten hatte, bewarb ich mich bei der kanadischen Einwanderungsbehörde unter Vorlage meines Arbeitsvertrags um eine befristete Aufenthaltserlaubnis (. Ein Konsulat brauchte ich dafür nicht aufzusuchen, der gesamte Bewerbungsprozeß lief über das Internetportal der Behörde. Die Wartefrist war kurz und die Bearbeitungsgebühr zu verschmerzen.

Bei meiner Ankunft war ich auf einige Herausforderungen gefaßt: die unerschöpfliche Weite des Landes, den endlosen Winter und allfällige Verständigungsprobleme. Mit einem Anpassungsproblem hatte ich jedoch nicht gerechnet: daß das Klischee stimmt, daß die Kanadier nett sind, urnett. Nicht nur einfach höflich oder freundlich, sondern richtig entspannt, zugänglich und ausgeglichen. Das bedeutet, die schlechte Laune, die einen in Deutschland schon beim Aufschlagen der Morgenzeitung erfaßt, läßt man besser zu Hause, sonst gerät man in Kommunikationsschwierigkeiten. 

Das Leben in Hochhäusern ist verpönt

Die Welle der Unruhe, die den Westen ergriffen hat – Trump, EU-Krise, Migrantenansturm – scheint an der insularen Lage Kanadas vorbeizugehen. Jedenfalls ist das mein erster Eindruck, denn ich lebe an der atlantischen Küste selbst in einer Randlage, fernab des dichtbevölkerten Quebec-Ontario-Korridors, der das Herzstück des Landes bildet.

Von den Seeprovinzen sagt man, daß sie jeder Reisende nach Kanada schon einmal gesehen hat – aus dem Flugzeug heraus auf dem Weg nach Toronto oder Montreal. Dort angekommen muß ich gleich wieder zurück Richtung Osten fliegen. Auf dem Flugfeld peitscht ein gnadenloser Eiswind. In der Propellermaschine tragen alle eine dicke Jacke, und es herrscht ohrenbetäubender Lärm. Wir schreiben den 1. März, und ich spüre das Gefühl von „Frontier“ in mir heraufkriechen.

Die Provinz New Brunswick, in der ich mich niedergelassen habe, ist so groß wie Bayern, hat aber nur halb so viele Einwohner wie München. Wo nicht gerade zufällig ein Haus steht, stehen Bäume. Der Landesteil wirkt wie der ermittelte Querschnitt Kanadas: maritim temperiert im Vergleich zum frostigen Inland, aber nicht so klimatisch begünstigt wie Teile der pazifischen Gegenseite. Hügelketten wechseln sich mit malerischen Seen ab, die magisch im Tageslicht funkeln, aber dennoch nicht mit der atemberaubenden Kulisse der Rocky Mountains vergleichbar sind. Der Sommer rückt mit angezogener Handbremse heran. Zwar ist die Sonneneinstrahlung überraschend stark – Neubraunschweig liegt geographisch südlicher als Deutschland – aber die Temperaturen werden durch einen beständigen Wind gedrückt, der sogar im Juli das Tragen einer Jacke oft erforderlich macht.

Wissenswertes über Saint John? Selbst der Reiseführer macht sich nicht die Mühe, die Hafenstadt schönzuschreiben, in der ich mein Quartier aufschlage. Saint John ist so groß wie Trier, aber für meine verwöhnten europäischen Augen gibt es touristisch fast nichts zu entdecken. Die Altstadt umfaßt einige Blocks aus mehrstöckigen Backsteinhäusern des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Das ist typisch für die Gegend. Obgleich die maritimen Provinzen zu den ältesten Landesteilen gehören, reicht ihr architektonisches Erbe kaum weiter zurück als bis in die industrielle Epoche. Die altehrwürdige Denkmalarchitektur, die in Europa der Motor des Besichtigungstourismus ist, fehlt hier nahezu völlig.

Ich realisiere schnell, daß man Kanada zu seinen eigenen Bedingungen nehmen muß. Der Faktor, der hier das Leben dominiert, ist die Weitläufigkeit des Landes, die das Auto zum unentbehrlichen Familienmitglied macht. „Zu Fuß gehen nur die Armen“, wie mir ein Taxifahrer lachend versichert, der mich ungefragt kostenlos mitnimmt. 

Begegnen sich zwei wildfremde Fußgänger in der Stadt, grüßt man sich mit einer Selbstverständlichkeit, wie ich sie sonst nur von Alpenwanderungen kenne. Bushaltestellen erstrahlen im minimalistischen Chic: keine Fahrpläne ausgehängt, nicht einmal die Nummer der Buslinie steht an den schmucklosen Unterständen, an denen die Busse allenfalls im Stundentakt verkehren. 

Die Autokultur ist hier beinahe total, und die gesamte Siedlungsstruktur ist auf die individuelle Mobilität zugeschnitten. Der Übergang zwischen Stadt und Land ist weit fließender als bei uns, die Zersiedelung wesentlich größer und die Besiedlungsdichte auch in urbanen Gebieten deutlich geringer. Freistehende Einfamilienhäuser dominieren nicht nur die Vororte, sie finden sich sogar bis in das Zentrum hinein. Das Leben in Mehrfamilienhäusern oder gar Hochhäusern ist verpönt, selbst Sozialhilfeempfänger wohnen zumindest in Reihenhäusern.

Im Gegensatz zu Deutschland herrscht in der kanadischen Provinz Stadtflucht, nicht Landflucht. Die Innenstadt von Saint John wirkt knüselig und abgelebt. Wer Geld auf der Kante hat,  zieht raus in die Vorstadt. Zurück bleibt die Unterschicht. Der Aderlaß betrifft auch den Großteil der kommerziellen Infrastruktur, die in riesige Areale mit klotzartigen Einkaufszentren und endlosen Parkflächen am Stadtrand abgewandert ist. Wie ein abweisender Panzer umschließt ein solches Gewerbegebiet den kleinen, pittoresken Stadtkern von Charlottetown, der Hauptstadt der Prince-Edward-Insel.

Und doch verfügt die kanadische Kulturlandschaft über einen ausgesprochen starken Charme, der seinesgleichen in Europa und darüber hinaus sucht. Der Grund liegt in der traditionellen Holzbauweise der Häuser, die mit Stilsicherheit ausgeführt ist und der Landschaft ein unverwechselbares, typisch kanadisches Gepräge verleiht. In puncto Größe erreichen die Häuser palastartige, beinahe schon obszöne Ausmaße, die sich allerdings in der langen Winterzeit in hohen Unterhaltskosten niederschlagen. Überhaupt wirkt der Umgang der Kanadier mit Energie und Ressourcen verschwenderisch, was sicherlich auch damit zusammenhängt, daß das Land Wasser, Öl und Fläche im Überfluß besitzt. Autos läßt man im Stehen laufen, Plastiktüten werden im Supermarkt in rauhen Mengen abgegeben und der Duschstrahl schießt aus der Wand wie eine Wasserkanone.

Die Natur reicht bis an die Haustür heran. An meinem ersten Morgen staune ich nicht schlecht, als ein Sprung Rehe direkt am Haus äst – ein alltäglicher Anblick, wie ich bald feststelle. Weißkopfseeadler kreisen erhaben über Seen, und Kolibris schießen durch die Gärten, während Waschbär-Familien wie im Zeichentrickfilm über die Straße ziehen und Stachelschweine durch die Dämmerung huschen.  

Die soziale Ader der Kanadier ist sehr ausgeprägt. Angestellte in öffentlichen Ämtern sind von ausgesuchter Höflichkeit. Besondere Straßenschilder weisen Autofahrer an, in den Straßen langsam zu fahren, in denen behinderte Kinder leben. Kreuzungen sind mit Stoppschildern versehen; selbst bei Viererkonstellationen wird die Vorfahrt ohne den Versuch der eigenen Vorteilnahme eingehalten. Im Supermarkt gibt es sogar aus lauter gegenseitiger Rücksichtnahme eine Stückpreisregelung; wer hortet, muß mehr bezahlen.

Kanada ist eine High-Trust-Gesellschaft. Auf einer Feier im örtlichen Yachtclub – keineswegs ein Ort der Exklusivität – erlebe ich die Sitte, Trinkgelder für die Bardame einfach auf der Theke liegenzulassen – kein Gast rührt das Geld den Abend über an. Das Sicherheitsgefühl ist in New Brunswick sehr hoch, geradezu naiv hoch. Auf Parkplätzen weisen Schilder die Autofahrer an, doch bitte nicht zu vergessen, die Türen zu verriegeln. Wer seinen Hund Gassi führt, schließt sein Haus nicht ab; Schlösser, Türen und Fenster sind sicherheitstechnisch ein Witz. Das Bewußtsein, daß sich die Sicherheitslage schnell ändern kann, wie wir es in Deutschland erleben, ist hier nicht ausgeprägt; Sicherheit wird als selbstverständlich erachtet.

Dennoch ist die Atlantikregion keine Insel der Seligen. New Brunswick gehört zu den ökonomisch abgehängten Landesteilen, beinahe zwei Drittel des Budgets werden für staatliche Leistungen in Gesundheit und Erziehung aufgewendet. Die wirtschaftlich trostlose Situation schlägt sich auch auf die Volksgesundheit nieder. Saint John ist die „dickleibigste“ Stadt des Landes, der Körperumfang vieler Bewohner erreicht ein Ausmaß, das in Deutschland sozial nicht mehr toleriert werden würde. Das politische Klima ist durch einen Sprachstreit eingetrübt, in dem die Franko-Kanadier ihre Sonderrechte hartnäckig gegen ihre zahlreicheren anglophonen Landesgenossen verteidigen. 

Der anhaltend niedrige Ölpreis drückt auf das wirtschaftliche Klima, die kanadische Arbeitslosenquote ist inzwischen auf sieben Prozent angestiegen. Trotz der angespannten Situation am Arbeitsmarkt winkt die liberale Regierung Trudeaus unverdrossen weitere Massen ins Land. Für das laufende Jahr werden über 300.000 Einwanderer erwartet, ein neuer Rekordwert. Seit Jahren schon leistet sich Kanada die höchste Pro-Kopf-Einwanderung der Welt. Der ganz überwiegende Teil kommt mittlerweile aus Asien und Afrika, ein Eindruck, der sich sofort nach meiner Landung im Büro der kanadischen Einwanderungsbehörde verfestigt, wo ich fast der einzige Europäer bin. 

Einwanderung ist zum Zuschußgeschäft geworden 

Der renommierte deutsch-kanadische Wirtschaftswissenschaftler Herbert Grubel hat ausgerechnet, daß Einwanderung zu einem Zuschußgeschäft für Kanada geworden ist. Jeder Immigrant kostet die kanadischen Steuerzahler 6.000 Dollar im Jahr; das sind auf die Gesamtzahl der Einwanderer hochgerechnet 30 Milliarden Dollar jährlich. Im Gegensatz zu der von der AfD in Deutschland popularisierten Ansicht ist das kanadische Punktesystem keineswegs leistungsfähig, was die Auswahl von Fachkräften anbelangt. Weniger als 20 Prozent der Neuankömmlinge werden aufgrund ihrer persönlichen Qualifikation ausgewählt, der Rest besteht aus der Mitnahme enger Familienmitglieder wie Frau und Kindern oder dem Nachzug weiterer Familienmitglieder (beispielsweise der Eltern) oder sonstigen Personengruppen.

Zu dieser wirtschaftlichen Dauerbelastung gesellt sich eine zunehmend polarisierte Diskussion, die um die Aufnahme der mittlerweile rund 29.000 syrischen Flüchtlinge geführt wird. Trotz ihrer abgeschiedenen Lage ist den Kanadiern die chaotische Entwicklung in Europa nicht entgangen. Die Syrer sind auch schon in Saint John angekommen. Unten in der Rifle Range, einem Sozialbaukomplex,wurden sie angesiedelt, natürlich unter den Schwächsten der Gesellschaft.