© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn


Eye of the Tiger: Der mit der Stallone-Figur „Rocky“ legendär gewordene Hit der achtziger Jahre will mir an diesem Abend nicht aus dem Sinn, stammt er doch von der Band Survivor. Denn ums Überleben geht es hier am Maxim-Gorki-Theater, wo das „Zentrum für politische Schönheit“ zum Showdown seiner hypermoralischen Zirkusnummer „Flüchtlinge fressen“ geladen hat. So wollen sich – zum Ablauf des Ultimatums – ein halbes Dutzend syrischer Flüchtlinge den hier seit Tagen im Käfig befindlichen Tigern zum Fraß vorwerfen, aus Protest gegen die Bundesregierung und deren angeblich unmenschliche Flüchtlingspolitik. Am Ende fließt nicht einmal Theaterblut.


Eine junge Besucherin scheint, anders als die meisten Leute hier, dennoch aufgebracht, aber aus anderen Motiven. Schließlich gründe Deutschlands Wohlstand auf der Ausbeutung der Dritten Welt. Erst wenn alle bedürftigen Menschen nach Deutschland kämen und die Verhältnisse hier so kaputt und verarmt seien wie in den elendsten Teilen der Welt, könne eine gerechtere und bessere Gesellschaftsordnung entstehen. Ein Freund aus Hamburg, dem ich das berichte, erzählt von seinem evangelischen Präses, der gefordert hatte: „Wir müssen unser Lebensglück für die Flüchtlinge opfern.“ Dies seien wir aufgrund unserer Geschichte als Deutsche schuldig. Auf seine Nachfrage, was das für ihn, mit zur Hälfte jüdischen Vorfahren, bedeute, sind die Verkünder der Willkommenskultur plötzlich um eine Antwort verlegen.


Anderntags im Café sinniert eine spirituelle Telefonberaterin mit ihrem Gesprächspartner über Nacktschneckenzucht und Selbstversorgung. Sie zitiert das Bekenntnis ihrer besten Freundin, die eine vegane Restaurantkette hochziehen will: „Wenn ich ein Karnickel wäre, würde ich mich von dir auch schlachten lassen – das ist schon schön, wenn eine Veganerin das zu dir sagt!“ Im Kino wird es unversehens Wirklichkeit. In Giorgos Lanthimos’ schwarzer Komödie „The Lobster“ herrscht die Diktatur der Paarbeziehung. Alleinstehende Menschen müssen sich in einem abgelegenen Anwesen einfinden und haben dort 45 Tage Zeit, einen Partner zu finden. Verfehlen sie ihre Aufgabe, werden sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt. Unter den Ausbrechern („Loners“) ist wiederum jede Liebe verboten. Die Einzelgänger tanzen daher zur Elektromusik, schließlich muß jeder mit sich allein tanzen – die wenigen Kinobesucher lachen. Die Sehnsucht nach Liebe versteckt sich hier in der Bitte um die bevorzugte Nahrung: „My favourite food is rabbit.“