© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Tableau von Macht und Ohnmacht
Bewußtseinsstrom: Clemens J. Setz entwirft in dem Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ ein fulminantes Panorama synästhetischer Assoziationen
Felix Dirsch

Heil- und Pflegeeinrichtungen sind oft ein beliebtes literarisches Sujet. Günter Grass’ „Blechtrommel“ wurde 1959 mit der Gestalt des Oskar Matzerath weltberühmt, der seinen Abscheu auf die Welt der Erwachsenen dadurch ausdrückte, daß er sich weigerte, auf Durchschnittsgröße zu wachsen. In einer derartigen Anstalt notierte der schlaue Zwerg seine wenig glaubwürdigen Erlebnisse. Thomas Mann verdichtete Jahrzehnte vorher die morbide Welt der Zeit vor 1914 im Sozialkosmos eines Sanatoriums, das seine Frau Katia im schweizerischen Davos aufgesucht hatte.

Der österreichische Schriftsteller Clemens J. Setz macht in seinem neuen Roman ein Behindertenheim zum wichtigsten Ort der Erzählung. Die Handlung dreht sich hauptsächlich um die paranoide Epileptikerin Natalie Reinegger, deren breites Beziehungsgeflecht die besondere Aufmerksamkeit des Lesers fordert.

Die 21jährige ergreift den Beruf der Krankenpflegerin. Sie wird Bezugsbetreuerin für den gelähmten Rollstuhlfahrer und Homosexuellen Alexander Dorm, der ständig Besuch von einem Herrn Christopher Hollberg erhält. Dessen häufige Anwesenheit ist für alle Beteiligten insoweit ungewöhnlich, als bekannt ist, daß Dorm dessen Frau in den Suizid getrieben hat, zum Teil mit haßerfüllten Phrasen wie: Frauen sind wie Gitarren, auf denen man nicht spielen soll. Der Grund für das Verhalten des Unfallgeschädigten ist darin zu suchen, daß er in Hollberg verliebt ist. Dieser jedoch möchte sich, so wird vermutet, an dem Täter rächen, der nach dem Ableben der Rivalin vermeintlich freie Bahn hat. Natalie ahnt früh die bösen Absichten des Dauergastes. Aus dieser Situation heraus ergibt sich ein eigentümliches Verhältnis von Anziehung und Abstoßung zwischen Dorm und Hollberg, das im Verlauf des Textes an Dynamik gewinnt.

Am Ende überschlagen sich die Ereignisse: Natalie, die vor einem Einbruch bei Hollberg nicht zurückschreckt, deckt auf, daß der skurrile Hollberg seine Geschenkpralinen, die er Dorm regelmäßig mitbringt, aus Überresten von getöteten Mäusen herstellt, was als Ausdruck seiner öfter verdeckten Rachegelüste gedeutet werden kann. Nun ist Hollberg genug gereizt und kommt aus der Defensive. Er lauert der Pflegerin auf und überfällt sie. Deren Verehrer Frank verteidigt sie und setzt den Angreifer kurzzeitig außer Gefecht. Bald rappelt er sich wieder auf und läuft Amok. Er rast schließlich mit dem Auto in das Behindertenheim.

Der Roman hat es aufgrund der sprachlichen Güte des Autors in sich. Zwar fehlt der Geschichte ein Plot, was sie an einigen Stellen langatmig macht. Es ist natürlich schwierig, bei einem Umfang von über tausend Seiten den Spannungsbogen über die verschiedenen Episoden hinweg aufrechtzuerhalten. Das eigentlich Faszinierende ist die Vorgehensweise des Autors, der sich die Methode des Bewußtseinsstromes zu eigen macht – vor allem seit James Joyce ein beliebtes dichterisches Stilmittel, das bis heute nichts von seiner Bedeutung verloren hat.

Ständig wird der Leser mit der Figur Natalies konfrontiert. Ihre Welt macht den Roman zu dem, was er ist. Ihre Gedanken sind gefüllt mit synästhetischen Assoziationen, also Wahrnehmungen, die nur bei ihr zusammenlaufen, witzigen Tricks, speziellen Entspannungstechniken, einer idiosynkratischen „Non sequitur“-Sprache, diversen Variationen von Handy- und Internetspielereien, Chats, Netbots, manchmal hochgestochenen philosophischen Exkursen, Wortneuschöpfungen, phantasierten Szenarien mit merkwürdigen Halbwesen oder fiktiven Mäusen, das alles seitenlang und in Form einer Beobachtungsgabe, die aus scheinbar unzusammenhängenden Elementen Neues sich zurechtzimmert.

Manches Mal bleibt der Leser indessen etwas ratlos zurück, wenn der Gedankenstrom unvollendet bleibt. Dann muß dieser durch die eigene Phantasie ergänzt werden. Natalies Sexualpraktiken, die oft exzessiv geschildert werden, sind nichts für sensible Gemüter, ihre Vorliebe für bestimmte Körperausscheidungen ebenfalls nicht.

Auffallend ist, daß sich Setz inhaltlich oft in Kleinigkeiten verzettelt. Sein Stil ist trotz dieser mitunter komplexen Schilderungen jedoch einfach, klar und schnörkellos, also dem Volk aufs Maul geschaut. Wenn man das Buch für eine gewisse Zeit aus der Hand legt, hat man keine Probleme, wieder in den Text hineinzukommen. Dies ist keineswegs selbstverständlich.

Mit seinem letztlich schwer zu entschlüsselnden Tableau von Macht und Ohnmacht, Sinnsuche und Orientierungsverlust, Unterwerfung und Liebe in allen Spielarten, nicht zu vergessen: mit der Racheabsicht, präsentiert Clemens J. Setz – mit der Gitarre als durchaus passendes Symbol – das Leben als großes Spielfeld, auf dem sich immer wieder Fragen nach der Herkunft von Gut und Böse sowie dem Ursprung menschlicher Empfindungen stellen.

Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2015, gebunden, 1.021 Seiten, 29,95 Euro