© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/16 / 15. Juli 2016

Rußland und wir: Von der Existenzberechtigung der Geschichtswissenschaft
Weder Freund noch Partner
Stefan Scheil

Kaum etwas wird derzeit so oft und vor allem so gern beschworen wie eine traditionelle deutsche Freundschaft mit Rußland. Nimmt man die Katastrophen der Weltkriegsära heraus, so könne doch auf Jahrhunderte freundschaftlicher Beziehungen verwiesen werden, heißt es dann. Und wie es so Brauch ist, wird man als Historiker von wohlmeinenden Zeitgenossen immer wieder zur Bestätigung solcher Gedankengänge aufgefordert.

Nun hat der wissenschaftlich arbeitende Vergangenheitsforscher nicht zuletzt deshalb seine Existenzberechtigung, weil er bei Bedarf etwas Wasser in solch euphorisierenden Wein gießen kann – falls das nötig sein und den Fakten entsprechen sollte. Wenn Geschichtswissenschaft eine Existenzberechtigung hat, dann eben die eines Kontrollorgans gegenüber allzu gewagten Vergangenheitsdeutungen. Ansonsten könnte man auch die Legenden weiter blühen lassen, wie sie es allerdings gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit sowieso vielfach tun. „Wissenschaft“ setzt sich nicht überall durch.

Im Fall Rußland ist es allerdings ziemlich viel Wasser, das hier fällig wird. Das hat Gründe, die historisch mehr als drei Jahrhunderte weit zurückreichen, als damals in Moskau beschlossen wurde, sich nach Westen in Richtung Europa hin zu orientieren. Das hätte als innerer Reformprozeß gemeint sein können und war es teilweise auch. Vor allem aber fand hier eine räumliche Neuorientierung statt, die nach kaum einem Jahrhundert schon dazu führte, daß Rußland in Kontinentaleuropa die führende Rolle spielte.

Es dominierte der politische Wille Peters des Großen und seiner Nachfolger, Land zu erobern, es mit Festungen zu sichern und entsprechende Pracht zu entfalten. Letzteres demonstrierte die neue Hauptstadt an der Ostseeküste, das mit viel Geld und ungezählten Todesopfern beim Bau bezahlte Sankt Petersburg. Den benötigten Grund und Boden für dieses Projekt nahm man zunächst vom Königreich Schweden. Und weil einer solch prächtigen Hauptstadt auch eine schützende Pufferzone gut anstand, nahm man davon reichlich, also das ganze heutige Finnland und die baltischen Länder, klug genug allerdings, sich bei letzteren vorübergehend mit den dort regierenden Deutschbalten zu arrangieren.

In der Konsequenz sah kaum fünfzig Jahre später zum ersten Mal das Oberhaupt eines deutschen Teilstaats ratlos und hilflos den Marschwegen russischer Armeen durch sein Territorium zu. Phasenweise waren sie in Berlin eingezogen, Königsberg hielten sie lange besetzt. Der Mann hieß Friedrich und war der zweite seines Namens auf dem Thron des Königs von Preußen.

Am Ende nahmen die Dinge noch einmal eher zufällig einen guten Ausgang für ihn und sein Land; man sprach vom „Mirakel des Hauses Brandenburg“. In Rußland starb die Zarin, und ihr Nachfolger hatte keine Neigung, den Krieg weiterzuführen, den man in Deutschland als den Siebenjährigen in Erinnerung behalten sollte.

Damit war trotzdem zum erstenmal eine Problemstellung vorgegeben, mit der sich die deutsche Politik seitdem immer wieder auseinanderzusetzen hatte. Wer in Rußland gerade regierte, aggressiv nach vorn strebte, vor sich hin siechte oder verstarb, das wurde seit 1750 immer wieder zur existentiellen Angelegenheit für innerdeutsche Verhältnisse. Die kulturellen und wirtschaftlichen Freundschaftsbeziehungen, so weit es sie vorher gegeben hatte, mutierten zu einer politischen Abhängigkeit. Den Kern des Problems stellten die vollkommen anders gearteten Möglichkeiten und daraus abgeleiteten Ansprüche eines kontinentgroßen Landes wie Rußland gegenüber der europäischen und deutschen Staatenwelt dar.

Und Rußland rückte stetig vor. Kaum jemand in Berlin oder Wien wäre ernsthaft auf den Gedanken gekommen, das damalige Polen teilweise oder sogar ganz aufzuteilen und von der Landkarte zu streichen. Mit dem solide gewachsenen Chaos des großen, aber politisch paralysierten Polenstaats hatte man in Deutschland eigentlich immer recht gut leben können. Anders sah es aus, als aus Sankt Petersburg Druck gemacht wurde und sich in den 1770er Jahren die Aussicht abzeichnete, entweder einen Teil der polnischen Beute für Preußen und Österreich zu sichern oder Gefahr zu laufen, daß Polen nun völlig russisch werden würde. Die polnischen Teilungen ließen den Löwenanteil schließlich dennoch bei Rußland landen. Ein Teil der preußisch gewordenen Gebiete mußte schon nach kaum zehn Jahren wieder abgetreten werden, und schließlich begann Rußland seit 1815 etwa dreihundert Kilometer vor Berlin.

Während Wilhelm II. noch treuherzige Briefe an seinen Verwandten auf dem russischen Thron schrieb, ließ der geheim mobil machen. Wenn es je einen unprovozierten Angriffskrieg gegeben hat, dann die russische Attacke auf Deutschland im Jahr 1914.

Das hatte Auswirkungen auf Deutschland, die zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geraten sind. So waren es russische Truppen, mit denen 1848/49 die erste demokratische Revolution in Deutschland so lange niedergeschlagen wurde, bis sich zunächst in Wien die Reaktion durchgesetzt hatte. Viel Lärm wurde später über die arrogante Ablehnung der daraufhin vom Paulskirchenparlament als letzte Chance angebotenen Kaiserkrone durch den preußischen König entfaltet. Sicher, Friedrich Wilhelm IV. mußte an diesem Tag nicht besonders viel Schauspieltalent entwickeln und verachtete Demokraten wirklich von ganzem Herzen. Aber an den stärkeren Grund für die Ablehnung erinnerte Kanzler Otto von Bismarck später das wieder einmal in liberalen Nostalgiewallungen befindliche Parlament: Eine Annahme der Kaiserkrone hätte einen sofortigen europäischen Großkrieg gegen zwei Staaten bedeutet, gegen das konterrevolutionäre Österreich und gegen Rußland, auszutragen auf deutschem Boden mit vielleicht dem republikanischen Frankreich als einzigem Verbündeten. Die kleindeutsche Einheit als Kaiserreich fiel also vorläufig einer russischen Drohung zum Opfer.

Dabei blieb es bekanntlich nicht. Aber die 1871 dann doch geduldete Gründung des Deutschen Reiches reute den Zaren so schnell, daß schon zwanzig Jahre später der berühmt-berüchtigte französisch-russische Geheimvertrag unterschrieben wurde. Es war dies ein Vertrag „zur Eroberung Deutschlands und seine Aufteilung in Kleinstaaten“, wie Zar Alexander III. anläßlich der Unterzeichnung befriedigt äußerte. In den Jahren vor 1914 wurde schließlich seine Umsetzung gründlich vorbereitet, bis Ende Juli dieses Jahres nach erneuten französisch-russischen Konferenzen auf Ebene der Staats- und Regierungschefs die große geheime Mobilmachung der russischen Streitkräfte begann. Währenddessen weilte der deutsche Kaiser noch im Urlaub und schrieb nach der Rückkehr seinem Verwandten auf dem russischen Thron treuherzige Briefe, er solle seine Streitkräfte bitte in die Kasernen zurückziehen, sonst lande man noch im offenen Konflikt. Wenn es je einen unprovozierten Angriffskrieg gegeben hat, dann die russische Attacke auf Deutschland im Jahr 1914. Man solle aus der Geschichte lernen, heißt es, wie gesagt, häufig. Der russische Zar hatte gelernt, daß jeder seiner Vorfahren ein stattliches Stück Land dazugewonnen hatte.

Ein Deutschland, das sich von seinen gegenwärtigen Bindungen verabschieden würde, wäre der treffliche Hebel für neue russische Einflußnahme in Europa. Zu gewinnen gäbe es für uns dabei am Ende wenig mehr als Konflikte und erneute Isolierung.

Einen nachhaltigen Umschwung im Verhältnis Rußlands zu Deutschland und Europa brachte selbst die realsozia­listische Ära Rußlands nicht. Zwar kündigten die Bolschewiki zunächst einmal sämtliche Geheim- und Teilungsabkommen bis zurück ins 18. Jahrhundert als verbrecherische imperialistische Unternehmen. Bald besann man sich jedoch eines anderen und schloß selbst neue Teilungsabkommen, zuerst mit den Nationalsozialisten und später mit den westlichen Kapitalisten, so daß – aus geopolitischer Perspektive betrachtet – große Teile Europas erneut unter russische Oberhoheit kamen.

Rußlands gegenwärtiger Präsident Wladimir Putin vertritt bekanntlich die Meinung, der Zerfall der Sowjetunion sei die eigentliche geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen. Daran ist so viel richtig, daß der Moskauer Herrschaft in den Wirren des Jahres 1991 so gut wie alles verlorenging, was das zaristische Rußland und die Sowjetunion in den letzten dreihundert Jahren davor erobert hatten. Der sprichwörtliche russische Völkerkerker mußte seine Gefangenen entlassen, wobei – wie es bei Gefangenen häufig zu sein pflegt – nicht alle Insassen über diese Entwicklung restlos glücklich waren. 

Übrig blieb geradezu ein Treppenwitz der Geschichte, nämlich eine mittelosteuropäische Staatenlandschaft, die trotz zweier verlorener Weltkriege in vieler Hinsicht dem ähnlich sieht, was das kaiserliche Deutschland im Jahr 1918 im Frieden von Brest-Litowsk vorübergehend erzwungen hatte. Schon damals sollte es mit dem ständigen politischen und strategischen Alpdruck eines Rußland vorbei sein, das von der deutschen Grenze bis an den Pazifik reichte. Statt dessen dachte man an eine staatliche Struktur in der Region, die zwar nach den Anforderungen deutscher Sicherheitspolitik, aber eben auch nach den vorhandenen ethnischen Gegebenheiten ausgerichtet sein sollte. Gewissermaßen hat 1991 also noch einmal ein „Mirakel“ stattgefunden.

Kann man denn nun aus deutscher Sicht etwas aus dieser Geschichte lernen? Die Haupterkenntnis dürfte zunächst einmal sein, daß Rußland sich in den letzten Jahrhunderten nie als Freund oder wenigstens Partner auf Augenhöhe verstanden hat. Der anderslautende Eindruck wird weniger durch Kenntnis der Vergangenheit als durch deren romantische Verklärung in einer Art Tauroggen-Syndrom verursacht. Die Zustände in Ost- und Mitteleuropa waren und sind aus russischer Sicht gut, wenn sie von dort dominiert und kontrolliert werden können. Eine Friedensdividende in Form der Aufgabe dieses Anspruchs kann sich Rußland nur selbst auszahlen.

Daß er derzeit nicht mehr eingelöst werden kann, wird in Moskau wie erwähnt extrem negativ beurteilt, woraus sich wiederum Rückschlüsse auf den tieferen Sinn der immer wieder zu hörenden Äußerungen einer möglichen deutschen Souveränität an Rußlands Seite ziehen lassen. Ein Deutschland, das sich von seinen gegenwärtigen Bindungen verabschieden würde, wäre der treffliche Hebel für neue russische Einflußnahme in Europa. Zu gewinnen gäbe es für Deutschland dabei am Ende wenig mehr als Konflikte und erneute außenpolitische Isolierung. An letzterer würde sich aller historischen Erfahrung nach dann auch Rußland augenblicklich beteiligen, falls man in Berlin einmal etwas anderes als ein Handlanger und tatsächlich souverän werden wollte.

Letztlich sitzen die angemessen engen Partner einer an deutschen Interessen orientierten Außenpolitik innerhalb Europas eher in Paris und Warschau. Was ihr im Wege steht, ist weniger die fehlende Einbindung Rußlands als eine Europäische Union, die sich mit Billigung der deutschen Regierung im Modus der unbegrenzten multikulturellen wie territorialen Erweiterung und Vertiefung befindet, also mehr oder weniger wächst wie ein Krebsgeschwür. Aber das muß ja nicht so bleiben, so viel läßt sich ebenfalls aus der Geschichte ableiten.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, studierte Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland. 2005 wurde Scheil mit dem Gerhard-Löwenthal-Preis für Journalisten ausgezeichnet, 2014 mit dem Historiker-Preis der Schweinfurter Kronauer-Stiftung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Kriegseintritt der USA im Ersten Weltkrieg („Der eigentliche Gegner“, JF 45/14).

Foto: Russische Schmähkarikatur von August 1914 auf die Kriegsgegner in Gestalt von Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph I. mit dem Beitext: „Was nur, jetzt kommst du auf den Geschmack, / Ich ziehe dich am Schnurrbart, / Daß du nicht an Rußland denkest, / Da, nimm einen Nasenstüber, / Und dein Verbündeter, der Österreicher, / der gierige Blutsauger, / Fiel auf die Knie vor Angst / Und kroch wie eine Schildkröte.“