© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Der importierte Terror
Nizza: Der tunesische Attentäter radikalisierte sich offenbar schnell und machte einen unverdächtigen Lastkraftwagen zum Mordwerkzeug
Marc Zoellner

Es sollte ein Freudenfest werden. Das ganze Land mit Trikoloren geschmückt, viele davon noch als Überbleibsel des EM-Finales von vorvergangener Woche. Landesweit versammelten sich Millionen von Franzosen, um Militär- und Flugparaden zu bestaunen; um mit ihren Familien den freien Tag auf Rummeln und Märkten, an Stränden und in den Cafés zu verbringen; um gemeinsam auf das historische Datum des 14. Juli anzustoßen. Doch was vom Tage blieb, waren geschockte Menschen, Trauer und Zorn, waren Blut und Leichen der 84 in Nizza Ermordeten – sowie die wütende Frage eines der Augenzeugen des niederträchtigen Lkw-Massakers: „Warum hat die Regierung uns nicht besser geschützt?“

Schon seit Wochen hatte Frankreich sich auf einen erneuten Terroranschlag vorzubereiten versucht. Besonders die Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft, deren Gastgeber das Land war, galten als hochsensibel. Verschärfte Sicherheitskontrollen an den Eingängen der Stadien, die teilweise bereits an jene auf internationalen Flughäfen erinnerten, sollten im Vorfeld Waffen und Sprengstoffe aus dem Verkehr ziehen. Auf den Dächern rund um die Pariser Fanmeile am Eiffelturm gingen Scharfschützen in Stellung.

Attentäter schlüpfte durch Raster der Geheimdienste

Daß nur eine Woche nach der EM der zweitschlimmste Terroranschlag in der Geschichte Frankreichs die Welt schockieren würde, damit hatte wohl kaum noch jemand gerechnet. Und eine Frage drängt sich bei diesem Bild geradezu auf: Was haben all die Vorkehrungen des Pariser Innenministeriums genützt, um einen Terrorakt wie jenen in Nizza zu verhindern? Immerhin handelte es sich vergangenen Donnerstag nicht um die von den Behörden erwartete konzertierte Aktion einer Gruppe bewaffneter Dschihadisten – so wie im Club „Bataclan“ in Paris mit 80 Ermordeten oder der Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion durch Fundamentalisten mit zwölf Toten. Der Attentäter von Nizza war hingegen sicherheitspolitisch noch nicht aufgefallen.

Tatsächlich war Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, so der Name des Attentäters, zwar schon mehrfach vorbestraft und seit März dieses Jahres nur auf Bewährung auf freiem Fuß. Doch über Eigentums- und Gewaltdelikte hinaus war im Vorfeld nichts über ihn aktenkundig geworden: keine politische Betätigung, keine Kontakte zu in- oder ausländischen Dschihadisten, nicht einmal ein religiöses Vorleben. „Bouhlel war nicht gläubig“, behauptete Walid Hamdou, ein Cousin der Frau des Attentäters, am Folgetag im Interview mit der britischen Daily Mail. „Er ist nicht in die Moschee gegangen, hat nicht gebetet, nicht den Ramadan befolgt. Er trank Alkohol, aß Schweinefleisch und nahm Drogen. Er war kein Moslem, sondern nur Scheiße.“ Indessen soll der unter anderem als Lastwagenfahrer jobbende Tunesier seine Frau geschlagen und Anfang des Jahres einen anderen Autofahrer im Streit um einen Parkplatz mit einer Holzpalette angegriffen haben.

Drei Kinder, in Scheidung lebend, hielt er sich mit Gelegenheitsarbeiten in der Einzugszone einer großen Metropole mehr schlecht als recht über Wasser: Lahouaiej-Bouhlels Biographie scheint eine von einer Million nahezu identischen allein in Frankreich zu sein. Durch das Raster der Geheimdienste, deren Befugnisse seit dem Bataclan-Anschlag vom vergangenen November durch die Notstandsgesetze grundlegend erweitert worden sind, ist Bouhlel geräuschlos hindurchgeschlüpft, wie die erschütternden Schlagzeilen der vergangenen Tage beweisen.

Ohne Mühe hatte der 31jährige einen 19 Tonnen schweren Lastkraftwagen anmieten und sich eine Handfeuerwaffe besorgen können. Werkzeuge des Terrors, mit welchen Bouhlel am Donnerstagabend vergangener Woche, aus einem nahe gelegenen Vorort kommend, Kurs auf die südfranzösische Hafenstadt Nizza nahm. Rund 30.000 Menschen hatten sich dort zu den Festivitäten des französischen Nationalfeiertags zusammengefunden, um gegen halb elf das Feuerwerk auf der berühmten Promenade des Anglais zu genießen. Eine Viertelstunde nach dessen Abschluß umfuhr Bouhlels Lkw eine der provisorisch errichteten Straßensperren, trat aufs Gas und schoß geradewegs in die Menge der Schaulustigen. Er steuerte den Lkw im Zickzackkurs, um so viele Menschen wie möglich umzubringen.

Seine Todesfahrt kostete 84 Menschen das Leben, darunter auch zwei Berliner Schülerinnen sowie ihre Lehrerin. Über 300 Zuschauer wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Erst eine couragierte Polizistin konnte den Attentäter stoppen. Bouhlel wurde von mehreren ihrer Schüsse noch im Führerhaus des Lkw erschossen. „Es war grauenhaft“, erzählte ein Zeuge später Reportern der Nice-Matin von seinen Erlebnissen. „Da waren Kinder auf dem Boden, in Stücken, Frauen, ältere Personen.“ Der Attentäter, berichtet eine Frau im Bayerischen Rundfunk, sei „direkt auf ein Kinderkarussell zugefahren, deshalb gab es so viele verletzte Kinder. So viele ganz kleine Kinder.“

Täter ließ sich plötzlich Bart wachsen und mied Alkohol

Durch den neuen Terroranschlag –den zweiten in Nizza nach jenem auf das jüdische Gemeindezentrum vom Februar 2015, bei dem drei Soldaten ermordet wurden – gerät Frankreichs sozialistischer Präsident in Zugzwang: Noch in der gleichen Nacht verkündete François Hollande die Verlängerung der Notstandsgesetze. Verdächtige können weiterhin ohne Begründung unter Hausarrest gehalten, Wohnungen ohne Gerichtsbeschluß durchsucht, öffentliche Versammlungen von den Behörden aufgelöst werden.

Nachdem Lahouaiej-Bouhlel zunächst als unreligiös beschrieben worden war, ergaben die Ermittlungen über das Wochenende deutlich einen islamistischen Hintergrund der Tat. Auf der Suche nach Mittätern und Hintermännern des Anschlags nahm die Polizei bis Sonntag abend acht Personen aus dem Umfeld des Attentäters in Gewahrsam; Bouhlels Ehefrau wurde inzwidesschen wieder auf freien Fuß gesetzt. Mehr als 200 Ermittler werteten den SMS-Schriftverkehr des Mannes aus. Ein albanisches Ehepaar wurde verhaftet, das im Verdacht steht, dem Attentäter eine Pistole besorgt zu haben. Zudem soll es Kontakt zu radikalislamischen Kreisen haben. Daß Lahouaiej-Bouhlel ein „einsamer Wolf“ gewesen sei, der sich vom IS inspirieren und rasant habe radikalisieren lassen, legen auch Zeugen nahe, die aussagten, der 31jährige habe sich plötzlich einen Bart wachsen lassen und den Alkoholkonsum aufgegeben. Gegen diese Art von Terrorist scheint sicherheitspolitisch bislang kein Kraut gewachsen.

„Die Gefahr sind nicht mehr jene Intrigennetzwerke aus dem Nahen Osten wie beim Bataclan, mit Monaten an Planung, mit eingeschleusten Immigranten und geheimen Geldkanälen“, schrieb der Journalist Hugh Schofield kürzlich auf der Onlinepräsenz BBC.com. „Heutzutage ist die Gefahr der Typ von nebenan. Der Terrorist aus deiner Nachbarschaft.“

Es ist eine Art von Terrorist, welche in Zeiten der Globalisierung durchaus auch kosmopolitische Charakterzüge trägt, wie das Beispiel des Tunesiers Bouhlel belegt – und vor welchem französische Sicherheitsexperten schon seit längerem warnen. So wie Patrick Calvar. „Wir dürfen nicht mehr in nationalen Kategorien denken. Tausende von Tunesiern, Tausende von Marokkanern und Algeriern können auf unser Staatsgebiet entsandt werden“, zitierte die FAZ kürzlich aus einem bereits vom Mai datierten Bericht des Chefs des Inlandsgeheimdienstes DCRI. Mit seiner Mahnung stieß Calvar im französischen Parlament schon damals auf taube Ohren. Und auch künftig scheint sich hieran nichts zu ändern. Denn François Hollande setzt seit vergangenem Wochenende auf ein ganz anderes Heilmittel: die Einberufung von Reservisten, um Armee und Polizei auf den Straßen zu verstärken.





Attentate in Frankreich

14. Juli 2016, Nizza

Der kleinkriminelle Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel überfährt mit einem Miet-Lkw auf der Strandpromenade von Nizza absichtlich mehrere hundert Menschen. 84 Menschen sterben, mehr als 300 werden teilweise schwer verletzt.

 13. Juni 2016, Magnanville

Der vorbestrafte Islamist Larossi Abballa ermordet wenige Tage nach Beginn der Fußball-Europameisterschaft in der westlich Paris gelegenen Kleinstadt Magnanville einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin.

7. Januar 2016, Paris

Ein 20jähriger aus Marokko attackiert am Jahrestag des Anschlags auf „Charlie Hebdo“ in Paris Polizisten mit einem Metzgerbeil und droht damit, sich in die Luft zu sprengen.

13. November 2015, Paris

Bei der Anschlagsserie in Paris gehen die Angreifer koordiniert an fünf verschiedenen Orten gleichzeitig vor. In der Konzerthalle „Bataclan“, am Fußballstadion Stade de France sowie in mehreren Bars, Cafés und Wirtshäusern ermorden die Täter um den mutmaßlichen Planer Abdelhamid Abaaoud mit Schußwaffen und Sprengstoff 130 Menschen. Seitdem gilt in Frankreich der Ausnahmezustand. 

21. August 2015, belgisch-französisches Grenzgebiet

Der schwerbewaffnete Marokkaner Ayoub El Khazzani schießt im Thalys-Schnellzug auf dem Weg von Amsterdam nach Paris auf Passagiere, von denen zwei schwer verletzt werden.

26. Juni 2015, Saint-Quentin-Fallavier

Der 35 Jahre alte Yassin Salhi enthauptet in einem Industriegaslager nahe Lyon seinen Vorgesetzten. Dessen Kopf hängt er neben dschihadistischen Fahnen an einem Zaun auf. Danach bringt der Mann mit arabischen Wurzeln mehrere Gasflaschen zur Explosion. Zwölf Menschen werden verletzt.

7. bis 9. Januar 2015, Paris

Die Islamisten Chérif und Said Kouachi stürmen das Redaktionsgebäude der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris und erschießen zwölf Menschen. In den Tagen darauf ermordet Komplize Amédy Coulibaly eine Polizistin und vier Menschen in einem jüdischen Supermarkt.