© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

„Die Armee ist unser“
Türkei: Nach dem Putsch zieht Präsident Erdogan alle Register, um sich seiner Widersacher zu entledigen
Christian Junkaris

Mit jenen Flüchtlingen, welche vergangenen Samstag am Flughafen von Alexandroupoli ankamen, einer kleinen, nur unweit der griechischen Landgrenze zur Türkei liegenden westthrakischen Gemeinde, hatte in Griechenland mit Sicherheit niemand gerechnet. Acht Soldaten entstiegen an jenem Morgen einem Black- Hawk-Helikopter: türkische Armeeangehörige. Geflohen aus ihrem eigenen Land, um in Griechenland politisches Asyl zu beantragen. Die Soldaten wirkten dabei nicht weniger überrascht als die griechischen Flughafenbehörden. Geradezu überrollt, erklärten die Uniformierten später während einer Befragung, seien sie von den Ereignissen in ihrer Heimat worden. 

Ihr Auftrag sei es gewesen, Verletzte von einer Istanbuler Bosporusbrücke zu evakuieren. Daß sie dabei zum willigen Werkzeug eines Putschversuches des Militärs gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geworden seien, hätten sie erst im Verlauf ihres Einsatzes per SMS erfahren. Aus Angst seien sie kollektiv nach Griechenland geflohen – und fürchten dort nun um ihre Auslieferung zurück in die Türkei, wo sie zumindest das Gefängnis und vielleicht sogar die Todesstrafe erwartet.

„Der Aufstand war ein Geschenk Gottes“

Eine Angst, die durchaus berechtigt ist, mag man den Worten des türkischen Präsidenten Glauben schenken. Als wütende Demonstranten am vergangenen Sonntag auf der Beerdigung mehrerer während des Putsches gefallener Zivilisten lauthals skandierten: „Wir wollen die Todesstrafe wieder!“, erklärte Erdogan kühl und gelassen, man könne die Forderungen der Menschen in einer Demokratie nicht ignorieren. „Das ist euer Recht“, schloß sich Erdogan der Menge an. Schon am Vortag hatte Binali Yildirim, seit Mai neuer Premierminister des Landes, vor Protestlern ähnliches verlauten lassen. „Wir haben Eure Botschaft verstanden“, verkündete der AKP-Politiker den Protestlern vor dem zerschossenen Parlamentsgebäude in Ankara. „Das Notwendige [zur Wiedereinführung der Todesstrafe] wird von uns getan.“

Noch immer zog zu diesem Zeitpunkt Rauch durch die Trümmer der Großen Nationalversammlung, den Sitz des türkischen Parlaments. Panzer und Armeehubschrauber hatten in der Nacht das Gebäude beschossen, etliche Eingeschlossene verletzt und einen Abgeordneten getötet. Nur wenige Stunden zuvor, um Punkt 22.29 Uhr Ortszeit Freitag abend, sperrten gepanzerte Infanterieeinheiten mehrere Brücken über den Bosporus für den Verkehr, belagerten den Atatürk-Flughafen von Istanbul und besetzten die wichtigsten Fernsehstationen der Türkei, darunter jenen des Senders TRT sowie von CNN Turk. Insgesamt, ergaben anschließende Ermittlungen, seien über 6.000 Soldaten in den Aufstand verwickelt gewesen; sowohl vom Heer als auch von der Luftwaffe. Der Coup d’État des Militärs sollte den Anfang vom Ende der Regierung Erdogan einleiten. Doch so rasch der Spuk über die Türkei hereinbrach, schien er auch schon wieder vorüber. Bereits um vier Uhr Samstag morgen landete der Präsident, frisch vom Strandurlaub aus der türkischen Mittelmeerstadt Marmaris zurückkehrend, auf dem Atatürk-Flughafen, wo er sich von seiner versammelten Anhängerschaft bejubeln ließ.

Noch immer liegen die Hintergründe des niedergeschlagenen Staatsstreichs im dunkeln. Etliche Theorien kursieren unter Analysten und Kommentatoren, von denen sich drei hervorheben: daß die unter starkem Verfolgungsdruck stehende Gülen-Bewegung (JF 21/16) mit einer Verzweiflungstat die Flucht nach vorn wagte; daß kemalistische Militärs eine Islamisierung der Türkei zu verhindern gedachten – und ebenso nicht ausschließbar, daß der Coup nichts weiter gewesen war als ein sogenannter „inside job“ von Erdogan selbst. 

Denn unter dem Strich profitiert keiner deutlicher von den Geschehnissen des vergangenen Freitag als der türkische Präsident. Was dieser auch nur allzu deutlich zugibt.

„Dieser Aufstand ist ein Geschenk Gottes an uns“, erklärte Erdogan vor seinen Anhängern „Nun haben wir einen Anlaß, unsere Armee zu säubern.“

Worte, denen alsbald schon Taten folgten: Im Verlauf des Wochenendes verhafteten Beamte des Innenministeriums fast 3.000 Angehörige des Militärs; unter ihnen auch zwei Brigadegeneräle, den ehemaligen Oberkommandeur der türkischen Luftwaffe, Ak?n Öztürk, sowie den General Adem Huduti, den Kommandeur der Zweiten Türkischen Armee, welchem zuletzt rund 120.000 Soldaten unterstanden. Mit Erdogans Säuberungswelle wurde der Armee ein schwerer Schlag versetzt. Das Militär gilt in der Türkei als tragendes Fundament einer kemalistisch orientierten und säkular ausgerichteten Republik. 

Viermal in der Geschichte der Türkei hatte die Generalität bereits Staatsstreiche initiiert. Jedesmal erfolgreich, so wie zuletzt 1997 während des „Kalten Putsches“ gegen den islamistischen Präsidenten und politischen Ziehvater Erdogans, Necmettin Erbakan. 

Die Niederschlagung des Freitagaufstands dürfte jedoch das Ende ihres einst bedeutenden Einflusses auf die politischen Entwicklungen der Türkei bedeuten. Ihre Autonomie gegenüber der Regierung habe sie auf jeden Fall bereits eingebüßt, begrüßte die AKP-Führung in Ankara im Anschluß freudestrahlend. „Die Armee ist unser und keine Parallelstruktur mehr“, faßte Erdogan die Auswirkungen des Staatsstreichs lapidar zusammen. „Ich bin ihr Oberkommandierender.“

Es war der bislang schwerste, jedoch nicht der erste Schlag Erdogans gegen die relative Unabhängigkeit der türkischen Armee: Bereits 2011 erhob die Staatsanwaltschaft nach vielfachen Hausdurchsuchungen und einer Verhaftungswelle Anklage gegen 116 Offiziere des Heeres. In deren Wohnungen hatten Beamte vorab Sprengstoff und Handgranaten sichergestellt. Im sogenannten „Ergenekon-Prozeß“ wurde auch diesen Offizieren sowie rund 200 weiteren Journalisten, Altgedienten und Geschäftsmännern vorgeworfen, eine gewaltsame Absetzung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan geplant zu haben. Die 2013 ausgesprochenen langjährigen bis lebenslangen Haftstrafen wurden im April 2016 allerdings vom Obersten Gerichtshof kassiert – sehr zum Mißfallen des Präsidenten. Denn weder hätte es Beweise für eine Verschwörung der Angeklagten gegeben, begründete das Gericht seine Entscheidung, noch seien deren Menschenrechte während der ersten Verhandlung gewahrt worden.

Der neuere Putsch hingegen endet mit einem klaren Sieg Erdogans nicht nur in der heißen Phase eines Staatsstreichs, sondern ebenso in einem noch tiefer greifenden kalten Krieg, welchen Erdogan seit Beginn seiner Präsidentschaft sowohl gegen die Kemalisten führt (JF 18/16), als auch gegen die Gülen-Bewegung. 

Bis zu acht Millionen Anhänger soll die moderat-islamische Heilsbewegung allein in der Türkei besitzen. Fethullah Gülen, der Begründer seiner gleichnamigen, weltweit agierenden Bewegung, war überdies einer der spirituellen Mäzene und Wegbereiter Erdogans, bis letzterer sich seit Ende 2013 aufgrund der Gezi-Proteste mit diesem zerstritt. 

Bei der AKP in Ungnade gefallen, wird Gülen vorgeworfen, in der Türkei einen Staat im Staate schaffen zu wollen. Nicht ganz zu Unrecht. Denn Gülens politischem Asyl in den Vereinigten Staaten ging eine unmißverständliche Aufforderung an dessen Anhänger voraus. „Ihr müßt in die Arterien des politischen Systems eindringen, ohne bemerkt zu werden“, verkündete Gülen damals in einer Tonbandrede. „Dort müßt ihr warten, bis die Zeit gekommen ist, zu welcher ihr sämtliche Staatsgewalt in euren Händen haltet.“

Gülen selbst dementierte prompt sein Mitwirken am Putsch. „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß es sich um einen inszenierten Coup gehandelt hat“, spielte der Beschuldigte den Ball prompt zu Erdogan zurück, „um weitere Anklagen gegen die Gülenisten zu erheben“.

 Tatsächlich wurden am Folgetag des Staatsstreichs nicht nur reihenweise involvierte Soldaten verhaftet, sondern auch fast rund 2.800 Richter und Juristen ihres Amtes enthoben. Zudem wurden 15.200 Mitarbeiter von Bildungseinrichtungen vom Dienst suspendiert sowie 24 Radio- und Fernsehstationen die Lizenz entzogen – allein des Verdachts wegen, sie sympathisierten mit Fethullah Gülen.

Ankara will „Terrorist“ Gülen ausgeliefert haben

Der Fall Gülen entwickelte sich schnell zum Lackmustest der Beziehungen zwischen der Türkei und den USA. Ankara pocht auf die Auslieferung des „Anführers der Terrororganisation Fethullah / Parallele Staatsstruktur“. Washington verlangt jedoch stichhaltige Beweise, die eine Verwicklung von Gülen in den gescheiterten Militärputsch untermauern. „Anschuldigungen reichen nicht“, erklärte Außenminister John Kerry. 

Wie all seine Amtskollegen der EU-Staaten warnte Kerry Ankara davor, bei der Aufarbeitung des Militärccoups Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzuschränken. Während der US-Politiker den Bündnispartner daran erinnerte, den „Maßgaben der Demokratie“ zu folgen, unterstrich die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini, daß Ankara mit der Wiedereinführung der Todesstrafe seine EU-Mitgliedschaft aufs Spiel setze. 

Doch Erdogan zeigt sich unbelehrbar. Wenn die Parlamentsparteien die Wiedereinführung beschlössen, werde er sie unterschreiben, erklärte der 62jährige. 

Entsprechend groß ist die Furcht  der acht in Griechenland gestrandeten Soldaten. Hieß es zuerst aus Athen, daß die Prüfung ihres Asylantrags sich noch lange Zeit – bis hin zu mehreren Jahren – hinziehen könnte, erhob die griechische Staatsanwaltschaft kurz darauf Anklage: wegen illegalen Grenzübertritts und der Verletzung des griechischen Luftraums.