© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Die Schlagkraft der Maschinen
Im Ersten Weltkrieg forderte die Kriegführung den Zugriff auf alle wirtschaftlichen Reserven der Staaten
Dag Krienen

Die europäischen Großmächte hatten 1914 nur wenige wirtschaftliche Vorbereitungen für einen Kriegsfall getroffen. Großbritannien war allerdings gemäß alter Tradition als Seemacht von Anfang an zum „Wirtschaftskrieg“ entschlossen: Die Mittelmächte sollten durch eine möglichst strikte Blockade von allen auswärtigen Zufuhren abgeschnitten und wirtschaftlich erdrosselt werden.
Die deutsche Seite reagierte rasch. Noch im August 1914 wurde im preußischen Kriegsministerium die „Kriegsrohstoffabteilung“ gebildet, die zum Ausgangspunkt der staatlichen Organisation der Rohstoffversorgung und -verteilung im Ersten Weltkrieg werden sollte. Sie trieb in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft auch den Ausbau von Ersatz-Industrien voran. Am erfolgreichsten war sie bei der Gewinnung von Stickstoff aus der Luft, die die ausfallenden Salpeterimporte aus Chile ersetzte und für die Produktion von Spreng- und Schießpulver von größter Bedeutung war. Andere Arten von „Ersatz“, zum Beispiel für Gummireifen oder Leder, waren von geringerer Qualität, doch gelang es Deutschland, die Rohstoffversorgung der Industrie bis zuletzt weitgehend zu sichern.
Bei der Lebensmittelversorgung war dies nicht der Fall. Hier setzten die Maßnahmen zu spät ein. Das Deutsche Reich hatte bis 1914 agrarische Überschüsse produziert. Zu lange wurde ignoriert, daß diese in erheblichem Umfang auf der Einfuhr von Düngemitteln und Viehfutter beruht hatten. Ernterückgänge, fehlende Einfuhren und Arbeitskräfte sowie überlastete Eisenbahnen führten ab 1916 zu einer andauernden Unterversorgung der Zivilbevölkerung.
Im Zeitalter einer prinzipiell liberalen Wirtschaftsgesinnung und unterstützt von der Hoffnung, eine schnelle Kriegsentscheidung herbeiführen zu können, gab es 1914 ansonsten weder bei den Mittelmächten noch bei ihren Gegnern Bemühungen zu einer Gesamtmobilmachung der Industrie oder gar zu einer staatlichen Wirtschaftslenkung. Die Streitkräfte aller Mächte hatten gewisse Mengen an Reservematerial eingelagert, um die mobilisierten Reservisten auszurüsten, und auch einige Munitionsvorräte für den ersten Kriegsverbrauch angelegt. Zur Deckung des weiteren Verbrauchs und als Ersatz für kriegsbedingte Ausfälle erteilten sie nach Kriegsausbruch zusätzliche Aufträge an die vorhandenen Rüstungsfirmen. Eine Einbeziehung von bislang rüstungsfernen Betrieben aus anderen Wirtschaftszweigen in die Munitions- und Waffenindustrie fand hingegen zunächst nirgends statt.
Großbritannien mobilisierte zuerst die gesamte Industrie
Doch bald erwiesen sich diese hergebrachten Verfahren aufgrund des immensen Verbrauchs der Millionenheere als unzureichend. Allein in den wenigen Tage der Marneschlacht im September 1914 wurde mehr Munition verbraucht als im gesamten Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Munitionsknappheit stellte sich auf allen Seiten ein und trug dazu bei, daß Ende 1914 im Westen der Krieg zum Stellungskrieg wurde, mit vielen relativ ruhigen Frontabschnitten und zunächst nur wenigen, kurzen Offensiven.
Die Behebung der „Munitionskrise“ wurde für alle Mächte zu einem zentralen Problem. Die Stickstoffsynthese und die Größe seiner chemischen Industrie halfen Deutschland dabei, dieses Problem ohne zusätzliche Mobilmachung der Wirtschaft zu bewältigen. Briten und Franzosen behalfen sich zum einen durch die Vergabe von Produktionsaufträgen für Munition an die US-amerikanische Industrie. Im britischen Fall erwies sich auch das als unzureichend, da das Land in Friedenszeiten, anders als im Falle der Marine, nur ein kleines Heer und eine entsprechend kleine Rüstungsindustrie unterhalten hatte.
Großbritannien ging deshalb als erstes dazu über, in großem Stile auch branchenfremde Betriebe in seine Rüstung einzuschalten. Im Juni 1915 entstand ein Munitionsministerium, das in Kooperation mit Unternehmern und Gewerkschaften eine umfassendere wirtschaftliche Mobilmachung betrieb und Maßnahmen zur Lenkung der Arbeitskräfte traf. Frankreich mußte für Ersatz für seine im Herbst 1914 zum größten Teil unter deutsche Herrschaft gekommene Schwerindustrie in den nördlichen Regionen um Lille und Longwy sorgen.
Das von Zufuhren weitgehend abgeschnittene Rußland verharrte lange Zeit im alten Trott und konnte so die Versorgung seiner zahlenmäßig überlegenen Heere mit Waffen und Munition nicht sicherstellen, was zu den schweren Niederlagen und Rückzügen im Jahre 1915 beitrug. Erst 1916 gelang es dort, weitgehend auf der Basis der Selbstorganisation der Industriellen, die Produktion von Waffen und Munition erheblich zu steigern, so daß das Land in diesem Jahr noch einmal zur Offensive übergehen konnte. Diese wirtschaftliche Mobilisierung ging allerdings zu Lasten der Versorgung der einfachen Arbeiter und Bauern, mit den bekannten Folgen im Jahre 1917.
Die Größe und Leistungsfähigkeit ihrer Schwer- und Chemieindustrie hatte den Deutschen bis Ende 1915 sogar eine leichte rüstungsmäßige Überlegenheit über ihre Gegner gesichert, nachdem die Frage der Rohstoffversorgung gelöst worden war. Erst der Schock der großen Materialschlachten bei Verdun und an der Somme im Jahre 1916 führten zu einer Mobilisierung der gesamten Wirtschaft und Gesellschaft. Das Hindenburg-Programm vom August 1916 sah eine gewaltige Steigerung der Produktion aller Waffen vor; das im November 1916 eingerichtete oberste „Kriegsamt“ im Kriegsministerium sollte nun alle wichtigen Bereiche von der Rohstoffbewirtschaftung, Arbeitskräftelenkung, militärischen Personalrekrutierung und militärischen Beschaffung zentral lenken.
Das in Absprache mit den Gewerkschaften erlassene „vaterländische Hilfsdienstgesetz“ vom Dezember 1916 statuierte eine allgemeine Dienstpflicht aller nicht im Militärdienst stehenden Männer vom 17. bis zum 60. Lebensjahr in der Rüstungsindustrie. Deren Produktion wurde durch die Einbeziehung aller geeigneten Betriebe in die Waffen- und Munitionsfertigung erheblich vergrößert, während nicht kriegswichtigen Betrieben Arbeiter, Rohstoffe und Werkzeugmaschinen rigoros entzogen wurden. Das Hindenburg-Programm stellte indes kein sorgfältig geplantes Gesamtprogramm dar, das die Verwendung der vorhandenen Ressourcen und die Bedürfnisse der unterschiedlichen Bereiche unter Berücksichtigung auch des zivilen Bedarfs sorgfältig aufeinander abstimmte. Es war viel zu stark von der Idee einer militärischen Kommandowirtschaft geprägt.
Die Oberste Heeresleitung (OHL) wollte durch eine umfassende Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ein Maximum an Rüstungsleistungen erzielen und verkannte die andersartigen Funktionsgesetze von Wirtschaft und Gesellschaft. Die beachtlichen, wenn auch nicht die Planzahlen erreichenden Erfolge bei der Waffenproduktion wurden deshalb mit immer neu auftretenden Knappheiten und Fehlallokationen in anderen Bereichen bezahlt. Als entscheidende Engpässe erwiesen sich das vernachlässigte Eisenbahnwesen sowie die Nahrungsmittelversorgung  und -verteilung. Die Bereitschaft der immer stärker überforderten, unter Hunger und Unterversorgung leidenden Arbeiter und einfachen Leute, die Kriegsanstrengungen mitzutragen, wurde so untergraben.
Entschieden wurde der Krieg allerdings militärisch durch die wachsende Überlegenheit der Westmächte und die immer effektiver gehandhabte Blockade. Schon kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hieß es, daß die Alliierten auf einer Woge von (amerikanischem) Öl zum Siege geschwommen wären. Tatsächlich war der freie Zugriff der seebeherrschenden westeuropäischen Mächte auf die wirtschaftlichen Ressourcen Nordamerikas von großer Bedeutung gewesen, um ihre Rüstung in die Höhe zu bringen und zugleich die Versorgung ihrer Bevölkerung sicherzustellen.
Ausweglos wegen materieller Überlegenheit der Feinde
Ihre Aufträge hatten schon vor dem Kriegseintritt der USA der dortigen, ursprünglich nur kleinen Rüstungsindustrie zu einem gewaltigen Aufschwung verholfen. Nach der Kriegserklärung US-Präsident Woodrow Wilsons im April 1917 bildete dieser die Basis für eine weitere wirtschaftliche Mobilisierung, die allerdings ihre Zeit brauchte. Anders als im Zweiten Weltkrieg lieferten im Ersten die USA ihren Verbündeten Waffen nicht in überwältigender Menge. Im Gegenteil: Die in Europa angelandeten amerikanischen Truppen wurden zunächst noch mit britischen und französischen Flugzeugen, Tanks und Geschützen ausgerüstet. Der Krieg endete, bevor die amerikanische industrielle Übermacht vollständig in eine riesige Waffenproduktion umgesetzt werden konnte. Das trug dazu bei, daß im Zweiten Weltkrieg die Produktionskraft der USA von Deutschen und Japanern 1941 sträflich unterschätzt wurde.
Deutschlands Niederlage 1918 war so weniger die Folge einer absoluten feindlichen Überlegenheit an Waffen und Munition, auch wenn eine solche sich in der Schlußphase des Krieges bemerkbar zu machen begann. Wichtiger waren jene Belastungen, mit denen der bis zuletzt durchaus beachtliche deutsche Waffenausstoß erkauft werden mußte. Diese wirkten sich schon bei der zunächst erfolgreichen deutschen Frühjahrsoffensive 1918 aus. Es war oft weniger der Widerstand britischer Soldaten als der von den erbeuteten britischen Vorratslagern auf die ausgehungerten deutschen Truppen ausgehende Reiz, der ihren Vormarsch verzögerte.
Der Krieg endete, als im Herbst 1918 die OHL einsah, daß die personelle und nun auch materielle Überlegenheit der Feinde immer weiter wachsen würde und die Lage Deutschlands in Zukunft nur noch schlechter werden konnte. Ludendorff drängte zum Abschuß eines Waffenstillstandes, bevor die sich ständig verschlechternden Machtrelationen zu einer totalen militärischen Niederlage führen würden. Erst danach brach in der Heimat die Bereitschaft zusammen, weitere Opfer und Entbehrungen für einen eingestandenermaßen nicht mehr erfolgreich zu beendenden Krieg zu ertragen.




Industrieller Krieg
Spätestens 1916 zeichnete sich mit den großen „Materialschlachten“ bei Verdun (Februar bis Dezember) und der Anfang Juli gestarteten britisch-französischen Großoffensive an der Somme  (bis November) ab, daß die Kriegführung nicht mehr allein von der Quantität und Qualität der militärischen Kämpfer abhing, sondern sich vielmehr auf die industrielle Potenz der kombattanten Staaten stützte. Zum 100. Jahrestag der Somme-Schlacht startete die JF eine dreiteilige Serie über die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundlagen für die
Kriegführung.