© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Fast die gleiche Soße in Rot
Totalitarismus in Sachsen zwischen Stalingrad und der Gründung der DDR: Ein Sammelband des Hannah-Arendt-Instituts
Jürgen W. Schmidt

In der Schriftenreihe des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) ist soeben ein Sammelband mit 28 historischen Aufsätzen erschienen (Band 60), welchen ein Redaktionskollektiv, geschart um den rührigen stellvertretenden Direktor des HAIT in Dresden, Clemens Vollnhals, publizierte. Es geht in allen Aufsätzen um Sachsen in den Jahren von 1943 bis 1949, als sich die zwölfjährige Diktatur des Nationalsozialismus ihrem Ende zuneigte und sich gleich nach der alliierten Besetzung eine neue, dreimal so lange Diktatur, diesmal der Kommunisten, anbahnte. 

Die ersten Aufsätze des Bandes zeichnen ein vielgestaltiges Bild Sachsens unter dem zusammenbrechenden Nationalsozialismus. Der geltungssüchtige sächsische Gauleiter Martin Mutsch-mann entwickelte sich hierbei zum „Reisekaiser“, um in fortwährender Agitation und Propaganda seine sächsischen Untertanen auf den Endsieg einzuschwören. Daneben wehrte der in Sachsen als „König Mu“ verspottete Mutschmann erfolgreich den Reichsführer SS Heinrich Himmler ab, der Sachsen stärker unter seinen persönlichen Einfluß zu bringen gedachte. Die der NS-Zeit gewidmeten Aufsätze heben die wichtige Rolle der hochentwickelten Industrieregion und einer reichen Forschungslandschaft hervor. 

„Befreiung vom Faschismus“ von Terror begleitet

Als Sachsen bei Kriegsende 1945 im Westen durch die Amerikaner und im Osten durch die Sowjetunion besetzt war, begann man sich seitens beider Mächte am Wissenschaftlerpotential in Leipzig und Dresden großzügig zu bedienen, und dies betraf, wie Nadin Schmidt in einem aufschlußreichen Aufsatz beschreibt, beileibe nicht allein die Sondergebiete der Atom- und Raketenforschung. Mit welchem Terror unter der Zivilbevölkerung sich die „Befreiung vom Faschismus“ in Sachsen vollzog, das geht ganz nebenbei aus dem Aufsatz über „Diktaturdurchsetzung“ in den beiden Landkreisen Liebenwerda und Schweinitz von Sebastian Rieck hervor. 

Wie beide Besatzungsmächte, Sowjet-union und USA, in der Zeit zwischen der Kapitulation am 8. Mai 1945 und dem in Jalta ausgehandelten Abzug der Amerikaner Anfang Juli 1945 aus Sachsen die lokalen Schalthebel der politischen Macht in dem von ihnen gewünschten Sinn durch eine gezielte Auswahl von Personen und Parteien umzustellen gedachten, das beweisen Nora Blumberg anhand von Leipzig (amerikanisches Modell) und Rainer Behring anhand von Chemnitz (sowjetisches Modell). Die Sowjetunion konnte freilich in ihrer Besatzungszone die ab 1945 getroffenen Entscheidungen bis über die Gründung der DDR hinaus zum Jahr 1989 durchsetzen, wie es der Historiker Tilman Pohlmann am Beispiel der damals installierten 1. Kreissekretäre der SED aufzeigt. Die damalige Mischung von Altkommunisten und jungen, erfolgshungrigen Neueinsteigern beherrschte die DDR zuverlässig bis zu ihrem Ende, weil jene Kader, allein schon durch ihre Existenz und durch ihr Festklammern an der Macht, späterhin jüngeren, reformbewußten Kräften den Weg in die Schaltstellen der Macht versperrten. 

Auch die vielbeschworene „Bodenreform“, welche die Macht der „Junker und Kriegstreiber“ brechen sollte, war, gleich mehrere Aufsätze im Sammelband verdeutlichen es, eigentlich nur Mittel zum Umbau der vorgefundenen Gesellschaft hin in Richtung eines leninistisch-stalinistischen Gesellschaftsmodells. Daß man im Rahmen des sozialistischen Umbaus auftauchende Probleme immer wieder dem „Klassenfeind“ in die Schuhe schob, dies erläutert der lesenswerte Aufsatz von Konstantin Hermann über „tolerierte Devianz“ bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität. Wurde Kriminalität zur Massenerscheinung, dann wurden statt von der aktuellen Führungsschicht zu verantwortender Mängel meist „ehemalige HJ-Führer“ verantwortlich gemacht, welche zugleich hochkriminell seien und die Jugend aufwiegelten. 

Auch die Sorben erlitten 1945 ein bitteres Schicksal

Auch der in Sachsen existierenden slawischen Minderheit der Sorben wird in dem Sammelband Raum gegeben, welche in der NS-Zeit in ihrer Sprach- und Kulturpflege drangsaliert wurden. Dennoch wurden die Sorben in den von Polen okkupierten Gebieten der schlesischen Oberlausitz genauso gnadenlos wie ihre deutschen Nachbarn vertrieben, lediglich in der Ober- und auch Niederlausitz genossen sie später eine gewisse, wohlwollende Sonderbehandlung. Zuvor spürten aber auch die in Sachsen lebenden Sorben von der späteren Fürsorge nichts und mußten wie alle anderen unter der sowjetischen „Befreiung“ leiden, die seit April 1945 besonders in Ostsachsen von einer Reihe brutaler Übergriffe und Massaker an der Zivilbevölkerung begleitet war. Wie eine Betroffene über die Soldaten der Roten Armee und deren Verhalten 1945 aussagte: „Wir hatten solch ein Vertrauen, weil sie doch Slawen waren wie wir. Wir haben versucht, auf sorbisch mit ihnen zu reden, doch auch das hat uns nicht geholfen.“ 

Mike Schmeitzner, Clemens Vollnhals, Francesca Weil (Hrsg.): Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, gebunden, 572 Seiten, 85 Euro