© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/16 / 22. Juli 2016

Der Flaneur
Freakshow im Ostseeurlaub
Ronald Gläser

Urlaub an der Ostsee. Neben der Ferienwohnung ist ein Bäcker. Frische Brötchen und Croissants. Vor allem freue ich mich über die Berliner Lokalzeitungen, die er auch verkauft.

Erster Tag. Der Verkäufer nennt seinen Preis, und ich greife in die Tasche, um die nötigen Münzen auf den Tresen zu legen. Während ich noch das Kleingeld sortiere, schlägt der Verkäufer plötzlich mit voller Wucht gegen eine Scheibe, an der ein kleiner Zettel auf Karopapier hängt. Handschriftlich steht dort: „Aus logistischen Gründen können wir keine Ein- und Zwei-Cent-Münzen akzeptieren.“

Jetzt fällt mir auf, daß alle Preise gerundet sind. Der Verkäufer glotzt mich an, als wolle er mir an die Kehle springen, während ich das lese. Vielleicht hatte er ja einen schlechten Tag. Er und die drei Handwerker in der Ecke, die mich anschauen, als wäre ich schwer von Begriff.

Drehen die hier eine neue RTL-Reality-Doku über die „Servicewüste Deutschland“?

Neuer Morgen, neuer Versuch. Ich: „Ein Mohnhörnchen, ein Käse­brötchen ...“ In dem Moment wird meine Aufzählung jäh unterbrochen. Der Verkäufer grunzt mich an: „Hat er bestellt?“ – „Äh, nein.“ – „Dann gibt’s keine Käsebrötchen. Die gibt’s nur für Leute, die bestellt haben. Sonst bestelle ich zuviel und werde die Ware nicht los.“

Ich schaue mich vorsichtig nach Kameras um. Vielleicht drehen die hier eine neue RTL-Reality-Doku über die „Servicewüste Deutschland“ oder so etwas Ähnliches. Keine Kamera zu entdecken. Nur die drei Handwerker, die mich wieder sehr skeptisch ansehen.

Wichtig für mich war die Information, daß der Verkäufer kein Bäcker ist und fremde Ware weiter­verkauft. Dazu diese Ansprache in der dritten Person („Hat er bestellt?“). Ich sage nur: Freakshow. 

Die restlichen Tage ging ich in eine andere Bäckerei. Wie gut, daß wir in einer Marktwirtschaft leben, in der es mehrere Anbieter zur Auswahl gibt. Dabei – das muß ich gestehen – habe ich für die Abschaffung der Ein- und Zwei-Cent-Münzen Sympathien. Wer braucht die noch?