© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Erdogans Staatsstreich
Türkei: Das Primat des Rechts gilt nicht mehr in der AKP-Gesinnungsdiktatur
Jürgen Liminski

Obama, Merkel, Hollande, UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon, EU-Funktionäre wie Schulz, Tusk, Juncker und viele mehr begrüßten das Scheitern des Putsches und die Rettung der Demokratie in der Türkei. Aber welche Demokratie? Ist die Türkei überhaupt noch eine oder ist sie nicht schon eine AKP-Diktatur mit einem Führer namens Erdogan? Der Rachefeldzug des „lupenreinen Demokraten“ Erdogan, der unter anderem mit dem Gedanken der Wiedereinführung der Todesstrafe spielt, zeigt der Welt erneut das wahre Gesicht des Despoten am Bosporus.

Seit Montesquieu, Locke, Hobbes, Milton und anderen wissen wir: Die Herrschaft des Volkes beruht auf der Teilung der Gewalten in Exekutive, Legislative und Judikative. Seit der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika, der großen Französischen Revolution oder auch der Paulskirchenverfassung wissen wir zudem, daß Pressefreiheit zur Demokratie gehört, und spätestens seit dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts  wissen die Deutschen auch, daß die Presse- und Meinungsfreiheit „konstitutiv“ ist für das Gefüge einer Demokratie. 

Mehr noch: Diese vierte Gewalt übt zusammen mit der dritten Gewalt (Justiz) die eigentliche Kontrolle in der parlamentarischen Demokratie aus. Denn das Parlament stützt in der Regel mit seinen Mehrheiten die erste Gewalt. Entscheidend sind freie Wahlen und dafür wiederum die vierte und dritte Gewalt. Gerade gegen diese tragenden Pfeiler der freiheitlichen Demokratie aber geht Erdogan mit brutalen Mitteln vor. Journalisten werden zu Dutzenden verhaftet, vor Gericht geschleppt, und Richter, die nicht im Sinne Erdogans urteilen, werden entlassen oder auch verhaftet. Mit einem Schlag hat er mehr als 2.700 Richter und Staatsanwälte (von insgesamt 15.000) festnehmen lassen, obwohl sie mit dem Putsch der Militärs nichts zu tun haben. 

Das Primat des Rechts gilt nicht mehr in Erdogans Gesinnungsdiktatur. Er kann Wahlen abhalten und international überwachen lassen – die Entscheidungen fallen im Vorfeld gleichgeschalteter Meinungen und vor den Tribunalen gelenkter Roben. Erdogan nutzt den gescheiterten Putsch, um seinerseits zu putschen. Es ist ein kalter Staatsstreich. Er hetzt die Straße auf und bezieht daraus seine Legitimation. Man kann sich mittlerweile fragen, ob ein geglückter Putsch für die Zukunft der Türkei und ihr freiheitliches System nicht erträglicher gewesen wäre als die Selbstermächtigung Erdogans. Natürlich ist der Diktator legal durch Wahlen an die Macht gekommen. Aber das war Hitler auch. 

Die Frage ist immer, wozu die Macht ge- oder mißbraucht wird. Vor allem, wenn sie von einem Herrscher ausgeübt wird, der einer ideologisch-religiösen Idee (Islamismus) folgt, deren Ethik rein utilitaristisch ist (gut ist, was dem Islam nützt), und der mit Terrororganisationen paktiert (IS, Hamas), statt sich vom Gemeinwohl leiten zu lassen. 

Für Erdogan ist das Gemeinwohl identisch mit ihm selbst. In einem Bändchen über Totalitarismus schreibt der Nestor der deutschen Politikwissenschaft, Karl Dietrich Bracher: Demokratie bedeutet Selbstbeschränkung, Ideologie Selbsterhöhung. Mit Erdogan hat die Welt ein Beispiel mehr für jene ideologische Hybris, die zwangsläufig zu Regimen mit dem Eiseshauch des Totalitären führt. In Brüssel, Berlin, Paris oder auch London und Washington schaut man gebannt weg, wie eine Demokratie untergeht, aus Moskau kommt Applaus. Und als ob er präventiv den Europäern die Idee eines Abbruchs der EU-Beitrittsverhandlungen austreiben wollte, poltert der Sultan schon herum, daß ihm niemand etwas vorzuschreiben habe, auch die Europäer nicht. Seine Drohgebärden sind unbegründet. In Brüssel, Berlin und Paris sitzen Appeasement-Politiker. Für sie gilt nur: No more refugees in our time. Keiner traut sich, laut zu sagen, daß es mit einem Regime, das foltern läßt (Amnesty hat alarmierende Hinweise) und die demokratischen Grundfreiheiten abschafft, keine institutionelle Gemeinsamkeit geben kann.

Der Furor des Sultans aber zerstört nicht nur die Demokratie, sondern auch ein Alleinstellungsmerkmal: Als nahezu einziges Land der islamischen Welt hatte die Türkei offiziell die Trennung von Staat und Religion vollzogen. Über 90 Jahre haben die Türken damit gelebt. Das führte zu demokratischen Erfahrungen, die trotz Unterbrechungen durch das Militär mittlerweile tief im Bewußtsein breiter Schichten verankert sind, vor allem der gebildeten und weltoffenen Aleviten. Überzeugte Anhänger der Demokratie und einer freien Wirtschaft dürften ein gutes Drittel der Bevölkerung ausmachen. Sie sind natürliche Gegner Erdogans. Sollte dieserseine brutalen Säuberungen fortsetzen und nicht nur Tausende soziale Einrichtungen, Schulen und Gesundheitsstationen von vermeintlich Andersdenkenden schließen, sondern auch durch seine islamisch-ideologisch geprägten Institute ersetzen, dann riskiert er einen Konflikt, der zum Bürgerkrieg führen kann. 

Der Wohlgeruch und der Geschmack der Freiheit sind bei zu vielen Türken bereits in Fleisch und Blut übergegangen. Zensur, Repression, mehr als 13.000 Personen in zu Massengefängnissen umfunktionierten Turnhallen, 60.000 entlassene Staatsbedienstete, Millionen Anhänger des von Erdogan verfolgten Predigers Fethullah Gülen – das kann in diesem gewaltgewohnten Land nicht gutgehen. Europa und die Nato sollten sich darauf einstellen, daß trotz der neuen Diktatur die Türkei demnächst wohl zu den unsicheren und labilen Kantonisten zählen wird.