© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Und als ich an die Rheinbrück kam...
Impressionen: Die Region zwischen Bingen und Koblenz steht mit ihren Sehenswürdigkeiten wie keine zweite symbolisch für die Rheinromantik
Hinrich Rohbohm

Majestätisch thront die Germania auf dem Sockel des Niederwalddenkmals. Mit Eichenlaub bekränzt, die Kaiserkrone in der Hand haltend, erhebt sie sich über die Weinhänge des Rüdesheimer Rosenecks. Das zwölf Meter hohe Bauwerk wird im Volksmund auch oft als „Die Wacht am Rhein“ bezeichnet.

 Und in der Tat wirkt die von der gegenüberliegenden Seite des Stromes weithin sichtbare Germania wie eine Wächterin, wenngleich das ebenso lautende Lied schon dreißig Jahre zuvor von dem Württemberger Max Schneckenburger gedichtet worden war. Entstanden unter dem Eindruck der Rheinkrise von 1840/41, als Frankreich den Strom zu seiner Ostgrenze erklärte und dadurch weite Teile preußischen Territoriums unter seine Herrschaft bringen wollte.

 „Es braust ein Ruf wie Donnerhall,/ wie Schwertgeklirr und Wogenprall:/ Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!/ Wer will des Stromes Hüter sein?/ Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein,/ Fest steht und treu die Wacht am Rhein!“ heißt es darin in der ersten Strophe. Das Denkmal erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Ein Krieg, der den Grundstein für das wiederrichtete deutsche Kaiserreich legen sollte. „Zum Andenken an die einmuethige siegreiche Erhebung des deutschen Volkes und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches 1870–1871“, steht über dem Reichsadler und zu Füßen der Germania auf dem Sockel des Denkmals geschrieben.

 „Am schnellsten geht’s mit der Seilbahn dorthin“, sagt der Kellner eines der zahlreichen Restaurants an der belebten Bingener Uferpromenade, von der man einen atemberaubenden Blick nicht nur auf Rhein und Reben, sondern auch auf das Niederwalddenkmal genießen kann. „Über den Reben schweben“ wirbt denn auch die Rüdesheimer Seilbahn für Fahrten durch „beste Lagen feinster Rheingau-Rieslingweine. Wer die in historisch-romantischer Atmosphäre verköstigen möchte, dürfte in der Drosselgasse von Rüdesheim gut aufgehoben sein. Die gerade einmal 144 Meter lange und zwei Meter breite mit Kopfsteinpflaster versehene Straße ist für Weinproben und gesellige Abende sowie das Kennenlernen rheinischer Fröhlichkeit wie geschaffen. Nach Speis’ und Trank erspart die Seilbahn den mühsamen Aufstieg zum Niederwalddenkmal. Das Bauwerk gilt als guter Orientierungspunkt zum ab hier beginnenden Weltkulturerbe Oberes Mittelrheintal, daß sich stromabwärts auf 67 Kilometer Länge bis Koblenz durch das rheinische Schiefergebirge schlängelt.

Den Armen die Nahrungsmittel verwehrt

 Mit seinen Burgen und Schlössern, die zum Teil auf Felsvorsprüngen in den Rhein hineinragen, den farbenprächtigen Weinreben und den auf schmalen Uferstreifen zusammengedrängten Dörfern steht diese Region wie keine andere für die Symbolik der Rheinromantik.

 Leise tuckert der von Rüdesheim startende Rheindampfer durch den Strom, nimmt Kurs auf die Stadt Bingen. Ihr Wahrzeichen ist die auf einer Anhöhe der Stadt gelegene im 13. Jahrhundert erbaute Burg Klopp, dessen imposanter Turm vom Rhein aus gut zu erkennen ist. Ihr heutiges Aussehen verdankt die Burg der aufkommenden Rheinromantik des 19. Jahrhunderts, in der die sagenumwobene Geschichte des Rheintals in der Romantik-Epoche ihren Ausdruck fand.

Der Dampfer legt ab, nimmt Kurs Richtung Mäuseturm, der sich auf einer Insel inmitten des Rheins befindet. Der Sage nach ließ ihn der Mainzer Erzbischof Hatto II. im 10. Jahrhundert erbauen. Als eine Hungersnot herrschte, soll er den Armen Nahrungsmittel aus seinen gefüllten Kornkammern verwehrt haben. Als sie weiterbettelten, habe er sie in eine Scheune gesperrt und diese angezündet. „Hört ihr, wie die Kornmäuslein pfeifen?“ soll er die Schreie der Sterbenden verspottet haben.

 Darauf seien Tausende Mäuse aus allen Ecken gekrochen gekommen, seien in die Gemächer des Bischofs eingedrungen und sollen dessen Bedienstete zur Flucht getrieben haben. Der Bischof sei darauf mit einem Schiff zur Insel gefahren, wo er sich im Turm in Sicherheit wähnte. Als er sich dort jedoch eingeschlossen hatte, wurde er der Sage nach von den Mäusen bei lebendigem Leibe gefressen.

 Lange Zeit diente das Bauwerk als Zollwachturm, ehe es während des Dreißigjährigen Krieges zerstört wurde. Es war der preußische König Friedrich-Wilhelm IV., der ihn als Grenzmarke im neugotischen Stil wieder aufbauen ließ.

 Eine fast unheimliche Ruhe strahlt der Turm aus, unterbrochen lediglich von dem Klicken und Surren der Kameras mehrerer japanischer Familien, die sich angeregt und fasziniert zugleich über das Kulturdenkmal zu unterhalten scheinen, ehe sie sich hastig umzudrehen beginnen, weil gleich gegenüber dem Mäuseturm die Überreste der Burg Ehrenfels zu sehen sind. „Ah“, „Oh“ und „Sieh mal hier“, rufen Schiffsgäste fasziniert. 

Auf Burg Rheinstein sind Trauungen möglich

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts erbaut, war die Burg während des Dreißigjährigen Krieges mehrfach besetzt und belagert worden, ehe sie während des Pfälzischen Erbfolgekrieges schwer beschädigt und vom Mainzer Domkapitel aufgegeben wurde. Heute befindet sich die Ruine im Besitz des Landes Hessen und ist für Besucher leider gesperrt.

Auch die wenige Schiffsminuten rheinabwärts gelegene Burg Rheinstein war einst eine Ruine, ehe Prinz Friedrich Wilhelm Ludwig von Preußen sie 1823 erwarb und einen romantisierten Wiederaufbau betrieben hatte. Es sollte die erste der von Verfall und Zerstörung in Mitleidenschaft gezogenen Rheinburgen sein, die wiedererrichtet wurde. Zwar befindet sie sich heute in Privatbesitz, kann aber zu bestimmten Zeiten besichtigt werden. Auch Trauungen und Übernachtungen sind dort möglich.

 Die in unmittelbarer Nähe befindliche Burg Reichenstein wartet für Besucher sogar mit einem Museum auf, das unter anderem eine umfangreiche Sammlung historischer Waffen und Rüstungen beherbergt. Besonders spektakulär: die Burg Pfalzgrafenstein aus dem späten 13. Jahrhundert, die sich auf einer kleinen Insel mitten im Rhein befindet und lange Zeit dazu diente, die Schiffszolleinnahmen der Zahlstelle in Kaub zu überwachen.

Wenige Biegungen weiter stromabwärts erscheint in der Nähe der Kleinstadt St. Goarshausen am rechten Rheinufer ein mächtiger, steil aufragender Schieferfelsen. Die Loreley. Jene sagenumwobene Wegmarke, die in der Rheinschiffahrt lange Zeit als gefährlichste Stelle des Stromes galt. Viele hatten an ihren Untiefen, Riffen und Felsen ihr Leben verloren. 

Den Dichter und Schriftsteller Heinrich Heine inspirierte der 132 Meter hohe Felsen 1824 zu seinem Loreleylied, in dem es heißt: „Ich weiß nicht was soll es bedeuten,/ Daß ich so traurig bin;/ Ein Märchen aus uralten Zeiten,/ Das kommt mir nicht aus dem Sinn./ Die Luft ist kühl und es dunkelt,/ Und ruhig fließt der Rhein;/ Der Gipfel des Berges funkelt,/ Im Abendsonnenschein./ Die schönste Jungfrau sitzet/ Dort oben wunderbar;/ Ihr goldnes Geschmeide blitzet,/ Sie kämmt ihr goldenes Haar./ Sie kämmt es mit goldenem Kamme./ Und singt ein Lied dabei;/ Das hat eine wundersame, Gewaltige Melodei./ Den Schiffer im kleinen Schiffe./ Ergreift es mit wildem Weh;/ Er schaut nicht die Felsenriffe,/ Er schaut nur hinauf in die Höh./ Ich glaube, die Wellen verschlingen./ Am Ende Schiffer und Kahn; Und das hat mit ihrem Singen./ Die Lore-Ley getan.“

Der erste, der die Loreley zur Kunstsage erschaffen hat, war jedoch nicht Heinrich Heine, sondern der Dichter und Schriftsteller Clemens Brentano, ein Hauptvertreter der Heidelberger Romantik. Auf ihn geht auch die ebenfalls Loreley genannte Nixe zurück, die heute als ein Wahrzeichen des Felsens gilt. In Brentanos Erzählungen zieht die Nixe mit ihrer Schönheit und ihrem Gesang die Rheinschiffer an und bringt sie an den Felsenriffen des Rheins zu Tode. Ein Gang auf die Spitze des Felsens lohnt sich. Bietet sich einem von dort doch ein phantastischer Blick über den Rhein, der sich in diesem Abschnitt mit seinen zahlreichen Kurven und Biegungen von seiner Schokoladenseite zeigt.

Ebenfalls attraktiv ist von hier die Aussicht auf St. Goarshausen mit seiner Burg Katz, die im 14. Jahrhundert von den Grafen von Katzenelnbogen erbaut wurde. Zusammen mit der am gegenüberliegenden Rheinufer befindlichen Burg Rheinfels bildete sie einst einen Zollriegel. Sie überstand die Eroberungskriege Ludwigs XIV. und auch den Siebenjährigen Krieg, in dem sie von den Franzosen erobert worden war. Bis sie Napoleon im Jahr 1806 sprengen ließ. Es war der St. Goarshausener Landrat Ferdinand Berg, der die Burg zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder aufbauen ließ. Heute befindet sie sich in japanischem Privatbesitz und kann daher nicht besichtigt werden. 

Ganz im Gegensatz zu der im 12. Jahrhundert errichteten Marksburg in der Nähe von Braubach, die – abgesehen von den dort befindlichen Büros der Deutschen Burgenvereinigung – zur Besichtigung freigegeben ist. Die Anlage ist die einzige nie zerstörte mittelalterliche Höhenburg des Mittelrheins. Wenige Schiffsminuten weiter flußabwärts, gegenüber der Lahnmündung, befindet sich das Schloß Stolzenfels. Ursprünglich im 13. Jahrhundert ebenfalls als Burg errichtet, wurde die Anlage erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom damaligen preußischen Kronprinzen zu einem Schloß ausgebaut, das den Hohenzollern als Sommerresidenz dienen sollte. Stolzenfels gilt dabei als das herausragendste Werk der Rheinromantik.

Der Kaiser im rot-orange glühenden Abendhimmel

 Nicht weniger imposant ist hingegen die gegenüber der Moselmündung gelegene Festung Ehrenbreitstein bei Koblenz. Als nach dem Wiener Kongreß von 1815 der Trierer Kurstaat als Teil der Rheinprovinz dem Königreich Preußen zugesprochen wurde, erließ König Friedrich Wilhelm III. die „Order zur Neubefestigung der Stadt Coblenz und der Festung Ehrenbreitstein.“ Es sollte der Start für eines der größten militärischen Bollwerke am Rhein werden, eines der umfangreichsten Festungssysteme Europas, das nach den damals modernsten Erkenntnissen „neupreußischer Befestigungsmanier“ errichtet und noch bis 1918 von der preußischen Armee genutzt wurde. 

Eine Seilbahn bringt den Besucher von der Koblenzer Uferpromenade über den Rhein hinauf zum Festungsplateau. Die rundum verglasten Gondeln gestatten einen Panorama-Rundblick über den Rhein, die Moselmündung und die Stadt Koblenz. Und auf das Deutsche Eck, dessen schiffsbugartiger Bau aus der Vogelperspektive besonders gut zum Vorschein kommt. 1897 wurde hier das Reiterstandbild des ersten deutschen Kaisers Wilhelm I. errichtet, das als Denkmal für die Deutsche Reichsgründung 1871 geschaffen worden war. Gemeinsam mit der Festung Ehrenbreitstein galt auch dieses Denkmal als „Wacht am Rhein“ gegen die Franzosen. In der untergehenden Abendsonne zeichnet sich die Silhouette des Reiterdenkmals ab. Es vermittelt den Eindruck, als würde der Kaiser mit seinem Pferd am rot-orange glühenden Abendhimmel über die Stadt hinweg reiten. 

Ein plötzlich erklingendes Surren frißt sich in das royal-romantische Stimmungsbild. Die Gondel ist auf dem Festungsplateau angekommen. Die Anlage ist durchzogen von unzähligen unterirdischen Gängen. Ein lautes Grummeln ist zu vernehmen. Kanonendonner. Vor dem Eingang einer dieser kleinen Tunnel ist ein Messingknopf in die Wand eingelassen. Nachdem er gedrückt wird, simulieren kriegerische Klänge und Bilder einen Eindruck vom Festungsleben der Soldaten. Eine kräftige, feste Männerstimme ist zu hören. „Diese Festung wurde nie angegriffen. Aber was wäre geschehen, wenn es einen Angriff gegeben hätte?“ fragt sie. Stille. Plötzlich durchschneidet ein ohrenbetäubender Donner das Dunkel des Ganges. Schemenhaft leuchten an seinem Ende Gestalten auf. Soldaten? Schnell wird einem das beklemmende Gefühl bewußt, unter dem sie hier einst ausharren mußten. „Bin ich froh, daß wir sowas beim Bund nicht mitmachen mußten“, flüstert ein junger Mann seiner Freundin scherzend ins Ohr. 

Die „Goethe“ fuhr schon 1913 auf dem Strom 

Wieder im Freien, aber noch von den Eindrücken im Tunnel mitgenommen, erblickt der Besucher keine fünfzig Meter entfernt das 1972 errichtete Ehrenmal des Deutschen Heeres, das an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkriegs erinnert. Seit November erinnert es zudem an die in der Ausübung ihres Dienstes zu Tode gekommenen Soldaten der Bundeswehr. 

Die Festung hat sich inzwischen zu einem kulturellen Treffpunkt entwickelt, an dem neben zahlreichen musikalischen Aufführungen auch das Landesmuseum Koblenz sowie eine Jugendherberge untergebracht wurde. Auf der Aussichtsterrasse der Festung tummeln sich die Touristen, um mit ihren Kameras den spektakulären Ausblick auf den Rhein einzufangen, auf dem gerade die „Goethe“ zu sehen ist, der letzte noch in Dienst befindliche Raddampfer des Rheins, der schon 1913 Gäste auf dem Strom beförderte. Mit seinem alten schwarzen Schornstein, der Schiffsglocke und seiner noch aus Holz gefertigten Kapitänsbrücke könnte man auch die „Goethe“ inzwischen als Teil der Rheinromantik ansehen.