© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Pankraz,
Toni Erdmann und die falschen Zähne

Ein Film zum Abgewöhnen: Maren Ades „Toni Erdmann“, mit Peter Simonischek in der Titelrolle, dem langjährigen „Jedermann“ der Salzburger Festspiele, welcher nächste Woche siebzig Jahre alt wird. Der Streifen wurde zum ersten Mal letztes Frühjahr beim Wettbewerb in Cannes gezeigt, wo er von der Jury aber völlig ignoriert wurde. Der Casus machte einiges Aufsehen, weil die (deutsche) Filmkritik vorher ein derartiges Jubelgeschrei über das Opus angestimmt hatte, daß buchstäblich sämtliche Wände wackelten. Und dann erhielt es nicht einmal einen kleinen Nebenpreis!

Jetzt ist „Toni Erdmann“ endlich in den Kinos – und das Publikum (wenn es sich überhaupt dafür interessiert) kann sich davon überzeugen, daß die Ignoranz der Jury von Cannes nur allzu verständlich war. Der Film ist nicht einmal eine Kalamität, kein Fall zum Sich-Aufregen, sondern allenfalls einer zum Sich-Wundern, ein „Furzkissen“, wie einer der Kinobesucher beim Hinausgehen zu Pankraz sagte. Er meinte wohl: Hier amüsiert sich eine winzige Schar von Eingeweihten über gewisse Geräusche, die für die Öffentlichkeit völlig unwichtig sind, weder in Sprache noch in Musik, noch in sonst Etwas umsetzbar.

Auch der Jedermann Simonischek, zweifellos ein guter Schauspieler, kann der Sache nicht aufhelfen. Hier muß er einen sogenannten Alt-68er mimen, dessen Hund gestorben ist und der sich nun daran erinnert, daß er auch noch irgendwo ein hübsches Töchterchen sitzen hat, das er einmal besuchen könnte. Gesagt, getan. Doch das Töchterchen ist mittlerweile zu einer ehrgeizigen Jungmanagerin und Unternehmensberaterin geworden und empfängt den Alten eher kühl und gleichgültig. Sie platzt geradezu vor beruflichem Ehrgeiz und kennt die Liebe nicht.


Sie hat nicht einmal Zeit für ordentlichen Sex. Einer ihrer Berufskollegen interessiert sich für sie, und sie geht mit ihm schließlich aufs Hotelzimmer. Dazu hat sie sogar ein aufreizendes Kleid angezogen, beide küssen sich zunächst auch, doch die Sache verläuft im Sande. Ines  (so heißt die Dame) sieht lediglich zu, wie ihr Partner vor sich hin onaniert. Simonischek alias Winfried aber, der Vater und Alt-68er, trollt sich zunächst, kommt dann aber, verkleidet als Toni Erdmann mit dunkelhaariger Perücke und vorstehenden falschen Zähnen, zurück und mischt sich in die Geschäfte der Tochter ein.

Einmal kommt er (der Film spielt in Bukarest) als deutscher Botschafter einher, ein andermal als reicher Auftraggeber und Investor, und Ines akzeptiert aus Geschäftsinteresse seine Verkleidungen, ja, wird ihm immer ähnlicher. Sie veranstaltet nun „Nacktempfänge“, die Partygäste erscheinen zumindest halbnackt, ältere Semester in irrer Aufmachung. Vater Winfried wechselt wieder die Klamotten und kommt als riesiges Hühnerküken angehüpft, mit einem hohen, hahnenkamm-ähnlichen Kopfaufsatz. Ein anderer Alt-68er, jetzt wichtiger Geschäftspartner von Ines, hat sich als Einkaufstüte verkleidet.

„Toni Erdmann“ endet, indem er gewissermaßen nicht endet. Winfried und Ines treffen sich bei der Beerdigung von Winfrieds Mutter, die aber modernerweise keinesfalls Ines’ Großmutter gewesen sein muß;  jedenfalls bleibt der Fall provokativ ungeklärt. Sind Winfried und Ines wirklich Vater und Tochter? Oder beruht alles auf einem genetischen Mißverständnis?  Ines stibitzt nach der Beerdigung die falschen Zähne aus Winfrieds Hemdtasche und setzt sie sich selbst ein; Toni Erdmann will eine Kamera holen gehen – und damit ist der Film zu Ende. 

Wie gesagt, die Kritiker in Cannes überschlugen sich vor Begeisterung. Es sei doch alles so herrlich komisch geraten! Und dabei doch auch so abgrundtief tragisch! Besonders die Figur der Ines (gespielt von Sandra Hüller) verkörpere in einmaliger Weise die ganze Tragik der emanzipierten, nach Selbstbetätigung und Selbstbestätigung strebenden Frau. Sie müsse sich (so die Neue Zürcher Zeitung) „in der Vampirwelt des Turbokapitalismus“ behaupten und habe sich dabei einen „Panzer“ zugelegt, „der so leicht nicht zu durchbrechen ist“.


Ihr Vater aber, der weise gewordene, skeptische und humorige Alt-68er, trifft ein und bricht den Panzer peu à peu auf. Indes, die Aktionen, die er dazu veranstaltet, und das Wie dieser Veranstaltungen wirken auf den Kinobesucher vollständig desintegrativ, er kann auch beim besten Willen keinen Sinn darin finden, und deshalb langweilen sie ihn nur. Er sieht und hört das Gelaber und Gezappel von Leuten, die wie verrückt in einer Besenkammer herumtoben und keinen Ausgang finden. Möglicherweise suchen sie auch gar keinen mehr, halten die Besenkammer für das potentielle Paradies auf Erden.

Die Sache mit dem künstlichen Gebiß von Toni Erdmann mit den vorstehenden Zähnen  liefert die hier fällige Metapher. Mit einem solchen Gebiß, wie er es trägt, kann man nämlich gar nicht mehr richtig zubeißen. Deshalb ist der „köstliche Humor“, den er damit erzeugt, auch so unkomisch. Häßliche Dinge zu zerfleischen mag unter Umständen komisch sein, doch Toni Erdmann zerbeißt keine häßlichen Dinge, sondern er ist selber häßlich. Und daß Ines

am Ende das Gebiß stibitzt und sich selber einsetzt, macht sie nicht milder und menschlicher, sondern allenfalls häßlicher.

Eigentlich schade um Ines

und schade um das Thema „Vater und Tochter“. Schade vielleicht auch um den Burgschauspieler Peter Simonischek; er ist wohl Besseres gewohnt. Er spielte schon einmal in Shakespeares tragischem Drama aus grauer Vorzeit „König Lear“, dessen Lieblingstochter Cornelia durch seine Schuld ums Leben kommt. Zu spät erkennt Lear: „Man lasse den, der selbst sich führen will! / Es zeigt sich oft: Der Mangel wird zum Heil, /  und die Entbehrung selbst gedeiht zur Hülfe / Weh, wer zu spät bereut!“ 

Für Simonischek-Erdmann kommt wohl, so wie er sich in dem Film aufführt, jede Reue zu spät. Aber für die tüchtige Hüller-Ines besteht durchaus noch Hoffnung. Noch einmal König Lear: „Das Hier verlierst du für ein bessres Dorf.“