© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Der Rundfunk meldet die Zahl der Toten
Bedrückendes Panorama: Gianfranco Rosis Dokumentarfilm „Seefeuer“ zeigt das Leben von Einheimischen und Migranten auf der Insel Lampedusa
Sebastian Hennig

In seinem Dokumentarfilm „Seefeuer“ läßt Gianfranco Rosi nur die Bilder sprechen. Doch wer die Dinge zeigt, wie sie sind, der muß gleichwohl darauf gefaßt sein, daß jeder darin nur sieht, was er sehen will. Für einen Film über die italienische Insel Lampedusa gilt das natürlich ganz besonders.

Dem Geschehen auf der Hauptlandungsbrücke der afrikanischen Völkerwanderung nach Europa wird je nach Perspektive ein ganz unterschiedliches Gewicht zugemessen. Es liegt im Auge des interessierten Betrachters, den Ort als Sicherheitslücke für die Europäer oder als rettendes Eiland für die Afrikaner aufzufassen. Regisseur Rosi überläßt es dem Blick des Zuschauers, seinen Film zu entwickeln. Er hat nur visuelle Köder ausgelegt. Um diese zu sammeln, brachte er ein ganzes Jahr auf der Insel zu. Die Zustände auf dem Eiland waren so widersprüchlich, daß eine tiefere Beschäftigung geboten schien.

Den Rest bewirkte der Zufall. Mit einer schweren Bronchitis begab sich Rosi in die Notaufnahme. Dort begegnete er Pietro Bartolo, der in seiner Eigenschaft als einziger Arzt auf der Insel die ersten Entscheidungen über die Ankömmlinge in den Flüchtlingsbooten zu treffen hatte. Lebende und Kranke waren von Toten zu sondern und einer entsprechenden Versorgung zu überstellen. Von dieser belastenden Verpflichtung erzählt er seinem Patienten, ohne zu wissen, mit welcher Absicht der auf die Insel gekommen ist. So hatte der Regisseur den ersten Prota-gonisten eines abendfüllenden Dokumentarfilms gefunden. Die eintreffenden Afrikaner beläßt er in ihrer massenhaften Anonymität. Das entspricht der Wirklichkeit des Insellebens. Bisher haben wir kaum etwas von deren Einwohnern erfahren, dafür aber sehr viel von den Migranten.

Die wichtigste Einzelperson des Films ist der zwölf Jahre alte Samuele. Er lebt bei der Großmutter, die ihn verwöhnt. Wie sein Vater will er Fischer werden. Doch der Knabe ist feist und kränklich und er neigt zur dramatischen Attitüde. Ungeschickt klettert er auf eine Kiefer, um ein Katapult herzustellen. Von dem gegabelten Holzstück verkündet er pathetisch: „Um diesen Griff zu zerbrechen, bräuchte es schon die Hand Gottes.“

Diese Hand führt Tausende Afrikaner in rostigen Booten der kleinen Insel zu. Der morgendliche Rundfunk meldet dann die Zahl der angespülten Leichen. Der Moderator verkündet später mit öliger Stimme die sizilianischen Lieder des Wunschkonzerts, „Die Liebe des Fuhrmanns“ oder das titelgebende Seefeuer „Fuocoammare“. Auch bei Samueles Großmutter leiert das zeitlose Schmachten aus dem Küchenradio. Sie erzählt Geschichten vom archaischen Leben der Fischer während der Kriegszeit. Doch das sind vergangene Zeiten. Nicht mehr der Reichtum des Meeres prägt das Leben der Insel, sondern die Armut über dem Meer.

Dann erreicht wieder der Funkspruch einer Frau die Einsatzzentrale. Sehr eindringlich kündet sie von den Frauen und Kindern an Bord. Beim Ausbooten sind dann allerdings fast nur Männer zu sehen. Die zahlen je nach Überlebenschance. Auf dem Oberdeck befinden sich die Bessergestellten. Halbtote sind weiter unten mit Schiffsdiesel verätzt. Im Laderaum bleibt zuletzt ein Bodensatz von vierzig Leichen.

Aus ihrer afrikanischen Heimat sind sie durch eine Vorhölle gegangen, um die Komfortzone der europäischen Wohlfahrtszivilisation zu erreichen. Immer wieder drehen die rettenden Schlauchboote am Rostkahn bei. Verletzte und Kranke werden geborgen, Schwimmwesten verteilt. Die Einsatzkräfte tragen Helmkameras. Die Geborgenen werden in glänzende Isolationsdecken gehüllt, sie umflattern die auf den Motorbooten in langer Reihe sitzenden Gestalten. An den bizarren Bilder der Wirklichkeit prallen alle bisherigen pseudo-künstlerischen Gestaltungen des Dramas ab. Eine Laienspielgruppe in Völkerstärke hat sich auf ihr melodramatisch gesinntes Publikum eingespielt. Einer memoriert mit hochsingender Stimme seinen englischen Monolog von Krieg, Not und Exkrementen. Der Arzt befindet: „Jeder, der ein Mensch sein will, hat die Pflicht, hier zu helfen.“ Wegen der Krätze werden die Hände einer Blickkontrolle unterzogen. Die Ankömmlinge werden fotografiert. Der Dieselgestank der Kundschaft nimmt den Betreuern den Atem.

Mit dem Hexenkessel der Ankömmlinge, die in der Notunterkunft Fußball spielen, kontrastiert die Einsamkeit des Knaben Samuele. Er ist schwach auf der Brust, und eine Brille bekommt er auch noch verpaßt. Ein Glas ist zugeklebt, um die Sicht zu korrigieren. Für einen Schleuderschützen ist das fatal. Er muß sich damit abfinden. In der Schule radebrechen die Jungs bezeichnende englische Worte: „stress – stressato, shock – scioccato“. Ein alter Mann taucht zwischen den Klippen nach maritimen Leckerbissen. Der Film zeichnet ein bedrückendes Panorama.