© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Freihandel
Unser nationales Interesse
Erich Weede

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gilt die Vertretung nationaler Interessen in Deutschland als bedenklich bis verwerflich. Das ist bedauerlich, wenn man bedenkt, daß vernünftig definierte nationale Interessen weder Kriegsgründe noch Vorwände für Verbrechen liefern. Hier sollen unsere nationalen Interessen durch Freiheit, Wohlstand und Frieden definiert werden. Wenn andere Nationen ihre nationalen Interessen gleichermaßen definieren, dann entstehen dadurch keine Interessengegensätze. Am offensichtlichsten ist das beim Frieden. Auch die Freiheit der eigenen Nation oder deren Wohlstand werden durch Freiheit und Wohlstand des Nachbarn gefördert, nicht gefährdet.

Von den drei genannten Zielen ist der Wohlstand am populärsten. Menschen haben immer wieder die eigene Freiheit und den Frieden materiellen Interessen geopfert. Planwirtschaftler haben den Menschen Wohlstand durch Unterordnung versprochen, wenn auch nie gegeben. Weil nur freie Menschen ihr Wissen und Urteilsvermögen nutzen können, ist Freiheit produktiv. Nicht nur Einschränkungen der wirtschaftlichen Freiheit durch autoritäre Regierungen, sondern auch Freiheitsbeschränkungen durch demokratisch legitimierte Regierungen sind eine Gefahr für den Wohlstand. Die Produktivität der Freiheit ergibt sich aus der Selbstbestimmung der Menschen, nicht aus irgendwelchen demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, die auch wünschbar sind, aber keine Produktivitätsgewinne garantieren. Wer an Wohlstand interessiert ist, muß nicht nur an der eigenen Freiheit interessiert sein, sondern auch an der Freiheit und der dadurch ermöglichten Innovation oder Produktivität der anderen.

Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Wohlstand einerseits und Frieden andererseits ist teilweise offensichtlich. Krieg und der übliche Zwang zur Mitwirkung dabei impliziert immer Freiheitsbeschränkung. Die Zerstörungen des Krieges bedeuten Wohlstandsvernichtung, je länger er dauert, je destruktiver die Waffen, um so mehr. Weniger offensichtlich sind die umgekehrten kausalen Zusammenhänge. Der Quantifizierung historischer Daten aus dem 19. und 20. Jahrhundert verdanken wir folgende Einsichten: Je wirtschaftlich freier und wohlhabender eine Gesellschaft ist, desto eher vermeidet sie Bürgerkrieg und politische Instabilität, kann sogar eine Demokratie werden. Je mehr zwei Gesellschaften wirtschaftlich miteinander verflochten sind – durch freien Handel oder Auslandsinvestitionen, auch durch Vermeidung von Protektionismus und Staatsbetrieben –, desto geringer ist die Kriegsgefahr. Wenn beide Staaten außerdem demokratisch regiert werden, dann ist die Kriegsgefahr besonders gering.

Dieses ganze Paket von Zusammenhängen kann man als kapitalistischen Frieden bezeichnen, weil wirtschaftliche Freiheit oder Kapitalismus – das sind im amerikanischen Sprachgebrauch Synonyme – zu Wohlstand und Demokratie und damit indirekt zum Frieden beitragen, weil wirtschaftliche Freiheit und Wohlstand nicht nur wegen der Demokratie, sondern auch wegen der wirtschaftlichen Verflechtung an sich die Kriegsgefahr verringern. 

Im Interesse maximaler Produktivität muß man globalen Freihandel anstreben. Wie der quälende Verlauf der Welthandelsgespräche zeigt, ist das politisch schwierig, so daß zweitbeste Lösungen, wie der nordatlantische Freihandel, an Attraktivität gewinnen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Deutschland zerstückelt. Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Angesichts des entstehenden Ost-West-Konflikts haben die USA aber bald den Wiederaufbau der westeuropäischen Volkswirtschaften gefördert, einschließlich der westdeutschen. Noch wichtiger als der Marshallplan war die von den Amerikanern betriebene Öffnung der Weltwirtschaft. Das hat den Verlierern des Zweiten Weltkrieges, vor allem Deutschland und Japan, ihre am Export orientierten Wirtschaftswunder erlaubt. Man könnte auch sagen: Gegenüber dem westlichen Deutschland und Japan haben die USA eine Politik des kapitalistischen Friedens betrieben, die durch die nukleare Abschreckung gegenüber der Sowjetunion ergänzt wurde. Freiheit und Wohlstand des westlichen Deutschlands im Gegensatz zur Unfreiheit und Mangelwirtschaft in Ostdeutschland haben dann zusammen mit der seit Ronald Reagan in Moskau wachsenden Furcht davor, daß aus der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens irgendwann auch militärisches Übergewicht werden könnte, die deutsche Wiedervereinigung vorbereitet.

In der europäischen Integration – von der Montanunion bis zur EU – sollte man eher eine Ergänzung der amerikanischen Politik des kapitalistischen Friedens sehen als den Hauptfriedensbringer. Sicher war die europäische Integration hin zu einem Binnenmarkt hilfreich für Wohlstand und Frieden in Europa. Aber ohne die amerikanische Politik, ohne die über Europa hinausgehende Westbindung, wäre das undenkbar gewesen. Daß nach dem Kalten Krieg die kapitalistische Friedenspolitik gegenüber Rußland nur halbherzig und letztlich erfolglos betrieben wurde, ist besonders aus der Sicht der Europäer fatal.

Die Westbindung Deutschlands und Europas dauert an. Sie manifestiert sich in erster Linie in der Nato. Ergänzend hinzukommen könnte und sollte ein nordatlantisches Freihandelsabkommen. Rein wirtschaftlich gesehen ist ein solches Abkommen nur zweite Wahl. Schon Adam Smith hatte darauf hingewiesen, daß Arbeitsteilung produktiv ist, daß das Ausmaß der Arbeitsteilung von der Größe des Marktes abhängt. Im Interesse maximaler Produktivität muß man globalen Freihandel anstreben. Wie der quälende Verlauf der Welthandelsgespräche zeigt, ist das politisch schwierig, so daß zweitbeste Lösungen, wie der nordatlantische Freihandel, an Attraktivität gewinnen. Gerade für eine exportorientierte Volkswirtschaft wie Deutschland ist der Abbau von Handelsschranken wichtig.

Hinzu kommt, daß wir mit den Amerikanern mehr freiheitliche Werte als mit Russen oder Chinesen teilen, daß wir den Amerikanern den kapitalistischen Frieden und den Wiederaufbau unseres Landes nach dem Krieg verdanken. Man darf sich auch daran erinnern, daß die Amerikaner im Gegensatz zu Briten und Franzosen die deutsche Einheit begrüßten. Kurz: Die Erhaltung der Westbindung Deutschlands und die Ergänzung der Nato durch einen nordatlantischen Freihandelspakt ist ein nationales Interesse Deutschlands, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch.

Die deutsche Politik hat lieber Griechenland und den Euro gerettet, als sich dafür zu engagieren, wie man Großbritannien in der EU hält und wie den Freihandel, damit indirekt auch Wohlstand und Frieden, im nordatlantischen Raum sichert.

Unglücklicherweise gibt es in Deutschland – von den roten und grünen Parteien bis hinein in die AfD – weitverbreitete Bedenken. Deren Merkmal ist, daß sie Kleinigkeiten überbewerten und große Fragen, wie Wohlstand und Frieden, aus dem Auge verlieren. Dafür nur zwei Beispiele: die Chlorhühnchen und der Investorenschutz. Auch nach Abschluß eines Freihandelsabkommens würde niemand gezwungen, amerikanische Chlorhühnchen zu verspeisen. Daß die Amerikaner daran massenhaft früh sterben, ist bisher auch nicht aufgefallen. Was den Investorenschutz durch nichtstaatliche Schiedsgerichte angeht: der war in der Vergangenheit auch Deutschland oft wichtig. Neuartig ist das nicht.

Natürlich schränkt Investorenschutz die nationale Souveränität bei entschädigungslosen und enteignungsgleichen Eingriffen in die privaten Eigentumsrechte ein. Das ist zwar eine Begrenzung der Souveränität, aber gleichzeitig auch ein Schutz privater Eigentumsrechte vor staatlichen Übergriffen. Wenn wir eine freie Marktwirtschaft als Voraussetzung für den Wohlstand erhalten wollen, dann ist das gut. Aktionäre von Eon oder RWE hätten sich etwas mehr Schutz vor den Eskapaden der deutschen Regierung in der Energiepolitik gewünscht.

Sicher kann man über die Details des Investorenschutzes streiten, aber auch bei suboptimaler Detailregelung sollte man sich fragen, ob nicht übergeordnete nationale Interessen – kurz: Freiheit, Frieden und Wohlstand – dafür sprechen.

Es gibt noch einen wichtigen Grund, warum ein nordatlantisches Freihandelsabkommen erstrebenswert ist, als Rückversicherung bei einem Scheitern des Euro und der EU. In Anbetracht des trotz niedrigster Zinsen steigenden Standes der Verschuldung in vielen südlichen Euroländern und der hohen Arbeitslosigkeit dort sind Zweifel daran angebracht, ob die dort notwendigen Reformen politisch durchsetzbar und die Schulden jemals bezahlbar sind. Außerdem könnte der abgemachte Austritt Großbritanniens aus der EU deren Zerfallsprozeß einleiten.

Danach wären die leistungsfähigeren nördlichen Volkswirtschaften, wie Deutschland, in einer mediterran dominierten, dem Protektionismus und einer Transferunion zugeneigten EU in einer hoffnungslosen Minoritätsposition. Eine Eurozone, die manche Länder zur Haftung für fremde Schulden zwingt und anderen Ländern die Wettbewerbsfähigkeit nimmt und dort die Arbeitslosigkeit hoch hält, wird nicht ewig zusammenhalten. Eine funktionierende transatlantische Freihandelszone mit den USA und Großbritannien wäre das ideale Auffangbecken für eine zerfallende Eurozone gewesen. Aber die deutsche Politik hat lieber Griechenland und den Euro gerettet, als sich in zwei viel wichtigeren Fragen zu engagieren: Wie hält man Großbritannien in der EU? Wie sichert man den Freihandel, damit indirekt auch Wohlstand und Frieden, im nordatlantischen Raum?






Prof. em. Dr. Erich Weede, Jahrgang 1942, Dipl.-Psychologe und Politologe, lehrte Soziologie an den Universitäten Köln und Bonn. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft. Auf dem Forum schrieb er zuletzt darüber, warum die Freiheit mehr von linken als von rechten Kollektivisten bedroht sei („Das Ziel ist der All-Staat“, JF 5/16).