© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/16 / 29. Juli / 05. August 2016

Die Flucht endete in Gefangenschaft
Wie eine Mutter mit vier kleinen Kindern 1945 die Flucht von Lauenburg in Hinterpommern nach Dänemark erlebte
Peter Ewald


Am 10. März 1945 wurde Lauenburg in Pommern der Roten Armee kampflos übergeben. Die Sowjets brannten es am selben Tag nieder. Nur zwei Häuser am Marktplatz überstanden das Flammenmeer. Viele Lauenburger versuchten diesem Inferno durch Flucht zu entgehen. Das hinterpommersche Städtchen, in dem 1939 noch 19.800 Einwohner lebten, wurde nach der Konferenz von Jalta Polen zugesprochen, was schon bald nach der Besetzung zu einer Zuwanderung von Polen und Ukrainern führte. 1946 wurde Lauenburg schließlich in Lebork umbenannt.

Wir, meine Eltern, meine drei Geschwister und ich wohnten in Lauenburg in der Kellermannstraße 14 a. Mein Vater war Leiter der Arbeitsamts-nebenstelle Lauenburg und wurde Anfang März 1945 zum Volkssturm nach Danzig eingezogen. Meine Mutter, damals 31 Jahre alt, hat die Ereignisse seinerzeit in einem kleinen Heft schriftlich festgehalten:

„In der Nacht vom 8. zum 9. März 1945 verließ ich mit meinen vier Kindern unsere Wohnung in Lauenburg. Ich lief noch einmal durch alle Räume, dann gingen wir in die Nacht hinaus: Christiane, drei Monate alt, im Kinderwagen. Die nötige Kinderwäsche und Nahrung hatte ich in den Kinderwagen gepackt. Jürgen (drei Jahre), Peter (fünf Jahre) und Rolf (sieben Jahre) stapften tapfer durch den Schnee. Zwei Taschen, ein kleiner Koffer, auf dem Rücken ein Sack mit den Kinderbetten, das war unser ganzes Hab und Gut. 

Nur noch über die Ostsee war eine Flucht möglich

Mit Soldaten wollten wir mitfahren. Es war ein großer Sturm, die Kinder hielten sich ängstlich am Kinderwagen fest, und so gingen wir Schritt für Schritt bis zur Neuendorferstraße. Gegen 2 Uhr morgens fuhren wir los. Nach siebenstündiger Fahrt in Richtung Osten –die Sowjets hatten bei Köslin bereits die Ostsee erreicht und damit den Landweg nach Westen abgeschnitten – kamen wir in Neusl bei Rahmel an. Die Soldaten hatten Befehl, uns hier abzusetzen. Am Wegrand wurden wir abgeladen und dann kämpften wir uns wieder durch den Schnee. Unser Ziel war die NSV, die ‘Nationalsozialistische Volkswohlfahrt’ (…). Dann kamen wir zum Bürgermeister (Amt?). Der Bürgermeister von Rahmel sah mich entsetzt an und riet mir, gleich weiterzufahren, denn so sagte er mir, ‘wir haben hier höchste Alarmstufe, es kann jeden Augenblick Räumungsbefehl geben’.“ 

Im März 1945 war die Flucht aus Pommern nur noch über die Ostsee möglich. Meine Mutter schrieb: „Wir machten uns auf den Weg zum Bahnhof Rahmel, das lag einen Kilometer entfernt. Es war für uns eine endlos entsetzlich lange Strecke, und wir haben wohl drei Stunden gebraucht. Die Straßen von Rahmel waren vollgestopft mit Lastwagen in endlosen Reihen (…), alles sah nach Flucht aus. Es fuhr gerade ein Zug nach Gotenhafen, doch wir kamen nicht mit (…). Endlich fuhr wieder ein Zug ein. Ich stieg mit den Kindern ein und wir kamen nach Neustadt/Westpreußen. Dort sah es furchtbar aus, Panzersperren und wieder Panzersperren. Der Vater meiner Schwägerin Else und ich gingen in die Stadt, um Quartier zu suchen. Doch wir hatten kein Glück, alles war belegt und überfüllt. 

Wir gingen dann wieder zum Bahnhof zurück und entschlossen uns, nach Gotenhafen zu fahren. Die Bahnbeamten konnten uns keine Auskunft geben, ob noch ein Zug nach dorthin fährt. Dann kam wieder ein Zug. Wir hatten Glück, (…) nach einstündiger Fahrt kamen wir in Gotenhafen an. Die Kinder standen blaß und übernächtigt auf dem Bahnsteig. Im Strom der Menschen wurden wir in die Bahnhofshalle geschoben. Die Kinder und den Kinderwagen (…) stellten wir in eine Ecke, die etwas ruhiger schien. Der Vater meiner Schwägerin blieb dort bei den Kindern, meine Schwägerin Else und ich wollten Quartier suchen und etwas Warmes für die Kinder holen, denn seitdem wir von zu Hause weggegangen sind, hatten wir nichts getrunken. 

Kaum hatten wir uns jedoch ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt, schallte es: „Fliegeralarm! Fliegeralarm! Alles von den Straßen!“ Else und ich liefen so schnell es ging zum Bahnhof zurück. Wir kamen gerade noch zurecht, denn der Beamte vom Bahnhofsdienst war bemüht, den Vater meiner Schwägerin mit den Kindern in einen Bunker zu bringen. Im Bunker standen wir dicht gedrängt zwei Stunden. Die Kinder konnten nicht mehr stehen, sie wollten trinken, ringsherum hörte man das Einschlagen der Bomben, die Flak schoß. 

Als der Angriff zu Ende war, machten wir uns auf die Suche nach Quartier. Inzwischen war es stockdunkel geworden, unsere Fragen nach einem Flüchtlingslager blieben meistens unbeantwortet, als sich endlich ein Soldat erbarmte und uns den Weg zum Kino (Flüchtlingslager) zeigte. Wir fragten nach dem Lagerverwalter. Nach langem Suchen kam ein Herr in brauner Uniform, der sagte uns, dieses Lager sei überfüllt. Frauen mit Kleinkindern müßten ins Wikingerlager. Wieder standen wir in der fremden Stadt, in der Ferne ein ununterbrochenes Grollen, Knattern und Lärmen. 

Wir irrten auf der Suche nach dem Wikingerlager in der Nacht herum, bis wir es endlich fanden. Inzwischen war es schon 21 Uhr geworden. 24 Stunden waren vergangen, seitdem wir unser Heim in Lauenburg verlassen hatten. Aber die Lagerwache wollte uns nicht hereinlassen, wegen wiederholter Fliegeralarme kamen wir in die Wachstube. Nun kamen wir ins Gespräch mit Herrn B., der mit uns zum Ortsgruppenleiter ging. Wir klopften und öffneten die Tür zu einem warmen Zimmer, gut eingerichtet, in dem der Ortsgruppenleiter im Sessel saß, ihm gegenüber eine Dame. Es roch nach Kaffee. ‘Was wollen Sie?’ fragte der Ortsgruppenleiter. ‘Ich habe vier Kinder auf dem Bahnhof, die Kleine ist ein Vierteljahr alt, ich muß für die Kinder etwas Warmes haben und ein Zimmer, wir sind seit 24 Stunden unterwegs.’ Darauf antwortete er ‘Sie machen mir Spaß, habe ich Sie gerufen, habe ich gesagt, sie sollen hier herkommen? Ich kann Ihnen heute keine Unterkunft geben, kommen Sie morgen um 9 Uhr und melden Sie sich ordnungsgemäß in Baracke 1 an, dann können Sie untergebracht werden.’

Die Kleinste hat die Strapazen nicht überlebt

Am Donnerstag, dem 15. März 1945, kam der Ortsgruppenleiter und sagte, ‘Fertigmachen, Sie bekommen heute Schiffskarten. Um 2 Uhr müssen Sie am Hafen sein.’ Danach bekamen wir die Schiffskarten ausgehändigt, dann ging es zum Hafen, gegen 4 Uhr sollten wir übergesetzt werden, aber auf welches Schiff? Nun wurden wir vom Fliegeralarm überrascht, die Kinder fingen an zu weinen und in ihrer Angst liefen Peter und Jürgen fort, denn russische Tiefflieger beschossen uns mit Bordwaffen. Rolf blieb am Kinderwagen und ich holte die beiden Jungs und ich dankte Gott, daß ich sie so schnell fand. Nun setzten wir uns ganz nah an den Kinderwagen und Welle auf Welle von Kampfflugzeugen überflogen uns. Ein Prasseln und Knallen rings um uns herum, wir zogen die Köpfe ein und ich erwartete unser Ende. Doch noch während des Angriffs legte plötzlich der Schlepper an, um uns an Bord zu bringen. Ein furchtbares Gedränge hob an, an ein Mitkommen war nicht zu denken. Der Schlepper war voll und wir warteten, daß er ein zweites Mal kam. 

Aber wir hatten kein Glück. Der Schlepper fuhr ein zweites und ein drittes Mal, aber wir schafften es jedesmal nicht, an Bord zu kommen. Insgesamt sieben Stunden standen wir am Hafen von Gotenhafen. Mein Gott, die Kinder haben nicht geweint und nicht gemurrt, sie saßen auf dem Rucksack ohne Essen und Trinken. Um 9 Uhr abends, wir waren durchgefroren und vor allen Dingen die Kinder furchtbar müde, entschlossen wir uns, wieder ins Lager zurückzugehen. Nach langem Umherirren in den dunklen Straßen kamen wir ins SS-Mütterheim. Die Jungs schliefen im Stehen ein. Ich habe sie dann ohne Essen hingelegt.“

Am 18. März 1945 konnten wir endlich an Bord des Passagierschiffs Potsdam gehen, das mit Flüchtlingen und Verwundeten völlig überfüllt war und uns nach Dänemark brachte. Von Kopenhagen ging es nach Hjallerup in Nordjütland und wir wurden in die Kirche einquartiert. Dort starb meine Schwester Christiane nach der entbehrungsreichen Odyssee. 

Drei Tage vor der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 standen dänische Widerstandskämpfer mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett um die Kirche. Wir durften die Kirche und das Kirchengelände nicht mehr verlassen. Ende Mai 1945 wurde die Kirche in Hjallerup geräumt und wir im Schloß Dronninglund untergebracht. Auch hier war alles total überfüllt. Schon nach wenigen Wochen war der Befall von Wanzen, Läusen und Flöhen unerträglich. 

Bis 1948 im dänischen Lager zusammengepfercht

Die dänische Kinderärztin und Historikerin Kirsten Lyloff berichtet (Dürener Nachrichten vom 27. Mai 1999), daß 13.492 deutsche Flüchtlinge 1945 in dänischen Lagern gestorben sind. Mehr als 7.000 davon waren Kinder unter fünf Jahren, von denen die meisten an durchaus heilbaren Krankheiten wie Magen- und Darminfektionen starben. Laut Lyhoff habe die dänische Ärztevereinigung den Flüchtlingen bis 1949 jede medizinische Hilfe verweigert. Diese Nachricht kann ich jedoch nicht bestätigen. Möglich, daß sie die medizinische Versorgung der Flüchtlinge des größten Flüchtlingslagers bei Oksbøl meinte, in dem 37.000 Flüchtlinge untergebracht waren. Ich wurde zumindest mehrfach geimpft. Eine deutsche Lagerverwaltung wurde eingerichtet, und ich wurde eingeschult. Am 5. Mai 1945 befanden sich etwa 250.000 deutsche Flüchtlinge in Dänemark.

Nach einem kurzen Aufenthalt in Ålborg-Vest kamen wir anschließend in die Flüchtlingslager Rye und Grove. In Rye wohnten wir in Baracke 176/1, Block II mit über zwanzig Personen in einem Zimmer, gegenseitige Rücksichtnahme war das oberste Gebot. Viele Alte und Kinder starben. Das Lager war von Stacheldraht umgeben und wurde von dänischen Widerstandskämpfern bewacht, auch von einem Wachturm aus. Die Lagerverpflegung in Rye war streng rationiert. Fleisch gab es so gut wie nie, dafür Suppen aus Wrucken (Steckrüben), Kartoffeln und Kohl. 

Im Jahre 1963 habe ich in den Semesterferien in Dänemark in Lystrup bei Århus gearbeitet. Mein damaliger Chef war auch Widerstandskämpfer. Er sagte, daß im dänischen Parlament von einigen Rednern gefordert wurde, Dänemark solle mit den deutschen Flüchtlingen so verfahren, wie es die Nationalsozialisten in Auschwitz getan haben.

Die Alliierten hatten die Einreise der Flüchtlinge aus Dänemark in die deutschen Besatzungszonen zunächst verboten. Erst am 21. Oktober 1948 wurden wir als sogenannte heimatlose Flüchtlinge in die französische Zone nach Württemberg entlassen. Langsam begann eine neue, bessere Zeit für uns.

Foto: Lager für deutsche Flüchtlinge im dänischen Oksbøl 1948: Völlig abgeschirmt