© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

„Führende Partei Großbritanniens“
Eigentlich hat Ukip mit dem Brexit alles erreicht. Doch nun steckt sie sich neue, große Ziele. Tatsächlich aber herrscht Zwist in der Partei, die einen neuen Vorsitzenden braucht. Douglas Carswell, ihr einziger Unterhausabgeordneter, wäre ein Kandidat – winkt jedoch ab
Moritz Schwarz

Herr Carswell, hat Ukip eine Zukunft?

Douglas Carswell: Natürlich! Was für eine Frage. 

Mancher Beobachter meint, mit dem Brexit habe die Partei ihren Auftrag erfüllt und werde nicht mehr gebraucht.

Carswell: Im Gegenteil, Ukip hat eine neue strategische Aufgabe.  

Nämlich?

Carswell: Politik in Großbritannien ist ein Kartell. Es ist ein manipulierter Markt. Die etablierten Parteien haben diesen so eingerichtet, daß sie stets gewinnen. Ukips Aufgabe für die Zukunft ist, dieses Kartell aufzubrechen. 

Aber ist nicht tatsächlich möglich, daß die Wähler folgern: „Danke Ukip, aber die Unabhängigkeit ist erreicht, jetzt brauchen wir euch nicht mehr. Nun können wir wieder Labour und Torys wählen!“?

Carswell: Nein, schauen Sie sich doch mal in Westeuropa um. Immer mehr Menschen sind über die Politik der Etablierten frustriert. Warum? Weil wir eine Revolution erleben, den Aufstieg einer neuen gesellschaftlichen Schicht.

Was meinen Sie?

Carswell: Schauen Sie ins 19. Jahrhundert: Das brachte die Industrialisierung und die Eisenbahn. Was zur Organisation der Arbeiterschaft führte. Und diese wiederum zur Labour Party – und zu deren konservativer Anwort. Diese Konstellation dominierte seitdem die britische Politik. Und Politik war seitdem ein Wettbwerb darum, wie weit der Staat sich in das Interesse der organisierten Arbeiter stellt. Und heute? Die Eisenbahn des 21. Jahrhunderts, das ist die Breitbandkommunikation! Breitband führt zur Organisierung nicht der Arbeiterschaft, sondern des „Citizen-Consumer-Interests“, also der Interessen der Bürger und Verbraucher. 

Für Sie eine neue Klasse ohne politische Vertretung?

Carswell: So ist es. Diese Leute schauen Netflix, sie nutzen Spotify – und sie wollen sich von klassischen Politikern nicht vorschreiben lassen, wie sie sich zum Beispiel zu versichern oder ihre Kinder zu beschulen haben. Denn die neuen Werte, die das Internet populär gemacht hat, sind die der Selbstbestimmung, der individuellen Wahl, der Kontrolle über die eigenen Belange – und nicht länger in einem Rahmen zu leben, der vorgegeben wird. Während der Brexit-Debatte etwa ging es im Kern nicht darum, daß wir hier weniger Ausländer im Land haben wollen ... 

.... was etliche deutsche Medien allerdings genau so kolportierten ...

Carswell: Falsch! Es ging um das Motto: „Taking back control!“, also etwa: Bürger, holt euch die Kontrolle zurück! Eben das ist das Motto unserer Zeit. Es ist ein sehr modernes, zeitgemäßes, ja zukunftsorientiertes Lebensgefühl. Und ja, keine der etablierten Parteien repräsentiert es. Im Gegenteil, alle stehen sie für den alten Politikstil, die Bürger patriarchalisch zu bevormunden, wenn nicht sogar abzuzocken. Diese Parteien und ihre Eliten sind wie die alten Habsburger – ein Ancien régime. 

Sie wollen also Ukip von der Partei der nationalen Selbstbestimmung zur Partei der individuellen Selbstbestimmung machen?

Carswell: Noch einmal: Schauen Sie nach Westeuropa! Was sehen Sie dort außer den vielen frustrierten Bürgern und den immer gleichen Parteien, die alle aus der patriarchalischen Epoche seit dem 19. Jahrundert kommen? Sie sehen etliche politische Scharlatane, die den Bürgern eine Alternative vorschwindeln – zum Teil politisch sehr häßliche, populistische Zeitgenossen. Wenn sich Ukip solcher politischen Primitivität und Scharlatanerie enthält, wenn sich Ukip politisch und wirtschaftspolitisch respektabel verhält, ein seriöses Werteangebot macht – dennoch aber, im wohlverstandenen Sinne, radikal ist, dann kann die Partei zu ungeahnten Ufern aufbrechen. Die Wähler sind heutzutage wirklich nicht mehr so, wie es die Parteibosse etwa in den Siebzigern noch gewohnt waren. Dies ist eine politische Reformation, die das Verhältnis zwischen den Bürgern und der Politik neu definiert! Ukips Aufgabe ist es, eine vernünftige Kraft für einen radikalen Wandel zu sein! 

Was macht Sie so sicher, daß sich Ihr großer Plan nicht als Luftschloß entpuppt? 

Carswell: Bei der letzten Wahl haben zwar immerhin vier Millionen Briten für uns gestimmt. Beim Brexit aber haben 17,5 Millionen für unser Anliegen, den Austritt aus der EU, votiert! Das zeigt, unser Potential ist noch gewaltig! Nun heißt es, Überzeugungsarbeit zu leisten. Sich für den freien Markt einzusetzen, in sozialer Hinsicht liberal zu sein und vor allem Optimismus zu vermitteln. Wenn uns das gelingt, dann können wir die Labour Party zerstören.

Ist Ihr „natürlicher“ Gegner nicht die Konservative Partei? Sie waren doch selbst Mitglied der Torys – zielt Ukip nicht eher darauf, deren Wählerschaft zu kapern?

Carswell: Wenn Sie die britischen Konservativen genau betrachten, dann sind diese eigentlich ein historischer Unfall, weil da im Grunde zwei unterschiedliche Parteien in einer vereint wurden: Die einen, die Torys, sind patriarchalisch, herablassend, sie glauben, es wäre die Aufgabe der Elite, über das Volk zu herrschen. Die andere ist die alte liberale Partei – die Partei von William Gladstone, mehrmaliger Premierminister, großer Liberaler und einer der bedeutendsten Politiker unseres Landes im 19. Jahrhundert, sowie die von Margaret Thatcher. Diese will nicht bevormunden, sondern Eigenverantwortung schaffen. Dieser Teil der heutigen Konservativen ist keineswegs unser Gegner! Was aber die Labour Party angeht: Üblicherweise wird angenommen, ihre Wähler wollten eine Art Fabianismus ... 

... eine britische Weiterentwicklung des Sozialismus ...

Carswell: ..., aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit wollen die Labour-Wähler für sich das gleiche, was die Reichen haben: Wohlstand und freie Wahl! Auch sie wünschen sich eigentlich Selbstbestimmung – nicht sozialistische Fremdbestimmung. Diese Wähler können wir ansprechen, obwohl sie Labour-Wähler sind, und wir können dafür sorgen, daß ihr bisheriger politischer Repräsentant, der seine eigene Klientel nicht versteht, sondern eine doktrinäre Vorstellung von ihr hat, verschwindet! 

Gehen Sie da nicht in die klassische Falle, zu glauben, alle Bürger schätzten Freiheit als höchstes Gut? Und am Ende stehen Sie doch nur mit fünf bis zehn Prozent da und wundern sich, warum.

Carswell: Im Gegenteil, haben Sie nicht verstanden, was ich Ihnen zu vermitteln versucht habe? Wenn ich sage, unser Ziel ist, Labour verschwinden zu lassen, dann weil wir sie ersetzen wollen! Und das ist keineswegs utopisch, weil Labour, wie eben erklärt, im Zuge eines historischen Wandels dabei ist, den Kontakt zu ihren Wählern zu verlieren. Und es ist nicht nur unser Ziel, Labour zu ersetzen, sondern darüber hinaus Ukip zur führenden Partei im Land zu machen. 

Bei der Unterhauswahl im letzten Jahr, Herr Carswell, hat Ukip gerade mal einen Sitz gewonnen.

Carswell: Richtig, doch das liegt am Wahlrecht. Ukip hat, wie gesagt, vier Millionen Stimmen erhalten – und das, obwohl die Wähler wußten, daß wegen des Mehrheitswahlrechts die meisten Ukip-Stimmen gar nicht ins Unterhaus gelangen würden. 

Inzwischen befinden Sie sich allerdings im Clinch mit Ihrer Partei, der Sie „angry nativism“, also eine Art Ausländerfeindlichkeit vorwerfen.  

Carswell: Ja, und ich glaube, das vor allem hat mit dazu geführt, daß wir nicht noch viel mehr Stimmen gewinnen konnten. Sie erwähnten eben, daß wir nur einen von 650 Sitzen errungen haben. Pardon, aber wessen Sitz ist das? Meiner! Diesen Sitz hat Ukip also mit einem Kandidaten gewonnen, der vollständig darauf verzichtet hat, zuwanderungskritische Wahlplakate aufzuhängen, der vollständig darauf verzichtet hat, Einwanderung zum Wahlkampf-thema zu machen und der jedem in meinem Wahlkreis erzählt hat, daß einer unserer Ukip-Kandidaten ein im Ausland geborener Pakistaner ist. Großbritannien ist ein anständiges Land – die Leute hier stimmen nicht für eine Partei, die nicht jeden Bürger respektiert. 

Wie groß ist das Problem in der Partei, nach Ihrer Auffassung?

Carswell: Ich darf Sie daran erinnern, daß Labour die Partei ist, die ein Antisemitismus-Problem hat. Sicher haben Sie auch in Deutschland davon gehört, was für indiskutable Bemerkungen Labour-Vertreter über Hitler, die Juden und den Staat Israel gemacht haben. Und bei den Torys wurden vor Jahren noch indiskutable Äußerungen über ethnische Minderheiten gemacht. Und ja, so etwas gibt es auch bei Ukip. Aber das ist nicht die Mehrheit in der Partei. Und ebenso wie die Torys unter David Cameron klargemacht haben, daß das nicht geht, muß unsere Parteiführung das auch vorleben und einfordern. 

Vorhin haben Sie bestritten, daß die Pro-Brexit-Kampagne im Kern eine Kampagne gegen Einwanderung war, jetzt beklagen Sie selbst, Ukip habe ein Problem damit. 

Carswell: Was ich gesagt habe, stimmt. Auch wenn ich selbst anklage, daß es ein entsprechendes Problem bei Ukip gibt, war dieses Thema dennoch nicht die inhaltliche Quintessenz der „Leave“-Kampagne. Und falls die Medien in Deutschland tatsächlich so etwas behauptet haben sollten, dann kann ich nur sagen, das waren doch auch die Medien, die behauptet haben, die Briten würden nie für den Austritt stimmen und die völlig ahnungslos die Propaganda der etablierten Eliten in Brüssel wiederkäuen. Glauben Sie mir, ich hatte Medien aus Frankreich, aus Deutschland und anderen Ländern bei mir im Wahlkreis zu Gast – es war ernüchternd. Noch mal, wer behauptet, das Votum der Briten für den Brexit war eigentlich ein Votum gegen Ausländer, der erzählt Ihnen schlicht und ergreifend eines: Die Unwahrheit.

Herr Carswell, was genau verstehen Sie eigentlich unter Fremdenfeindlichkeit?

Carswell: In der Politik artikuliert sich von Haus aus auch immer Zorn. Auf der Linken haben Sie Leute, die versuchen, Wut auf Reiche zu schüren, auf der Rechten Wut auf Ausländer. Beides ist Nonsens. Politiker müssen die Wut der Bürger über Mißstände aufnehmen und die Probleme lösen, nicht verstärken und auf Prügelknaben lenken.  

Was werfen Sie Nigel Farage vor – selbst ein „Fremdenfeind“ zu sein oder nur, solche geduldet zu haben?

Carswell: Farage ist keiner, hat aber zugelassen, im Wahlkampf entsprechende Plakate zu kleben. Oder zum Beispiel hat er die Silvester-Ereignisse von Köln in inakzeptabler Weise aufgegriffen. 

Inzwischen hat Farage seinen Rücktritt vom Parteivorsitz erklärt. Angeblich weil er nie Berufspolitiker werden, sondern Großbritannien nur aus der EU führen wollte. Dies sei erreicht, nun wolle er sein Privatleben zurück. Stimmt das oder sehen Sie andere Gründe?

Carswell: Ach wissen Sie, das fragen Sie ihn bitte selbst. 

Haben wir, bislang ohne Antwort. Begrüßen Sie seinen Rückzug?

Carswell: Ja, es gibt inzwischen etliche Punkte, die uns trennen.

Sie waren als möglicher Nachfolger im Gespräch, haben aber klargemacht, kein Interesse zu haben. Warum nicht?

Carswell: Tja, als Parteichef muß man viel Geduld mit den Menschen haben. Das fehlt mir – zumindest für diesen Job.

Auch Paul Nuttall, Farages Stellvertreter, hat abgewunken. Warum wollen die drei bekanntesten Köpfe der Ukip die Partei nicht führen?

Carswell: Ich habe Ihnen für mich Antwort gegeben. Für Nuttall kann ich nicht sprechen. 

Wer wird dann neuer Ukip-Chef?

Carswell: Warten wir’s ab!






Douglas Carswell, ist das einzige Mitglied der United Kingdom Independence Party (Logo rechts) im Londoner Parlament. Der ehemalige Abgeordnete der konservativen Torys, der seit 2005 im Unterhaus sitzt, wechselte im August 2014 aus Enttäuschung über die Politik David Camerons zur Ukip. Freiwillig legte er damals sein Mandat nieder, um Nachwahlen in seinem ostenglischen Wahlkreis Clacton zu provozieren, die er gewann. Dabei verbesserte Carswell sein Ergebnis sogar von 53 auf 60 Prozent – was die führende britische Sonntagszeitung Sunday Times als „schallende Ohrfeige in David Camerons Gesicht“ bezeichnete. Bei den britischen Unterhauswahlen im Mai 2015 verteidigte Douglas Carswell sein Mandat gegen einen neuen Tory-Herausforderer mit deutlichem Abstand. Geboren wurde der ehemalige Fernseh- und Investmentmanager 1971 in London.

 

 

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