© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Segen gibt’s auf dem achten Deck
Reisereportage: Als Bordgeistlicher auf einer Ostsee-Kreuzfahrt
Volker Keller

Da stehe ich im Talar in meiner „Kirche“ – nur hat meine Kirche keine Säulen und Emporen, keine dicken, alten Wände, nicht einmal einen festen Grund. Sie ist ein eleganter, von Glasfenstern umgebener Saal auf dem achten Deck eines Kreuzfahrtschiffes. Unter meiner „Kirche“, vor ihr, hinter ihr ist Meer, nichts als Meer. Was noch fehlt, ist die Gemeinde. 

Sechs  Besucher sind am ersten Seetag zum Gottesdienst gekommen. Mir ist klar, daß ich hier so ziemlich bei null anfange. Also los: Ich muß mich bekannt machen, interessante Themen anbieten, einladen und – die Gäste gewinnen. Seit 1873 schon bieten Bordgeistliche ihre Dienste  auf Schiffen an. Zuerst begleiteten sie die Auswandererschiffe nach Amerika, später schickten die beiden großen Kirchen uns auf Kreuzfahrtschiffe. Mitreisen tun wir unter anderem auf der „Europa“, der „Deutschland“, der „Amadea“, der „Albatros“ und der „Artania“. Die drei letztgenannten Schiffe gehören Phoenix Reisen. Geschäftsführer Johannes Zurnieden sagte mir einmal: „Lieber lasse ich eine Tänzerin zu Hause als den Bordgeistlichen.“ Auf das gute Klima an Bord kommt es an, dabei helfen wir mit.

Plötzlich kennt mich jeder an Bord 

Mein Schiff ist inzwischen von der Elbe in die Nordsee gefahren, mit Zielgebiet Ostsee. Am ersten Abend versammeln sich die Passagiere in der Showlounge. Der Kapitän stellt die Crew vor und begrüßt den Bordgeistlichen. Die Scheinwerfer werden auf mich gerichtet – jetzt kennt mich jeder an Bord und mein Dienst beginnt. Bei der anschließenden Einweisung der Künstler durch den Entertainment-Manager bin ich dabei. Ich gehöre zu ihnen und zu den Gästebetreuern, erfreue mich am Passagierstatus mit allen Annehmlichkeiten und einer schönen Suite mit Meerblick.

Die Fahrt geht durch das Skagerrak in den Oslofjord. Bei der Tee- und Kaffeestunde lerne ich einen Stammgast aus der seefernen Schweiz kennen. „Was für eine wunderbare Fjordlandschaft“, schwärmt er und bewundert, wie die Norweger sich in die Natur einfügen. Wie gepflegt ihre kleinen, bunten Holzhäuschen am Ufer aussehen. „Und jeder hat ein Boot“, füge ich hinzu, „es muß herrlich sein, so in der Natur zu leben.“ Dann bekennt der Schweizer, wie dankbar er sei, diese Bilder von Meer und Land vor Augen zu haben. Wir freuen uns gemeinsam – bei sanfter Klaviermusik.

In Oslo begleite ich eine Gruppe auf den Stadtberg zur gewaltigen Holmenkollen-Skisprungschanze. Der Blick von dort hinunter zur Stadt und übers Meer  ist weit und bestätigt, wie Oslo sich versteht: „The blue and the green, and the city in between.“ Die Stabkirche neben der Schanze dient den Athleten als Ort der Stille, der Entspannung. 

Die Kirche ist ganz aus Holz gefertigt, hohe Pfähle führen im Inneren in die Höhe – wie Masten auf einem Schiff. Gebaut wurde sie von Bootsbauern – wie ein Schiff. Zurück in der Stadt besuchen wir das Nobel Peace Center. In der ehemaligen Zughalle des Westbahnhofs wird an moralische Autoritäten der Welt erinnert. Unter anderem an  Willy Brandt für seine Aussöhnung mit ehemaligen Feinden. 

Im nächsten Gottesdienst greife ich das Thema auf. „Liebt eure Feinde“, appelliert Jesus. Nehmt die  Interessen und die Sorgen eurer Widersacher wahr. Erkennt ihre Gründe, euch abzulehnen, euch zu hassen. Teilt eure Interessen und eure Sorgen mit. Sucht gemeinsam nach  einem Ausgleich der Interessen. Nach dem Gottesdienst lädt mich ein Gast zu Wein und Nachgespräch ein. Er ergänzt die Predigt: „Ja, das kann der richtige Weg sein – aber muß nicht. Ausgleich  geht nur, wenn beide Seiten wollen. Wenn nicht, hilft Liebe nicht weiter.“

Weiter geht es entlang der kilometerlangen Hafen-Kais nach Göteborg. Weiter durch das Kattegat und nachts durch den Öresund. Ich treffe Ben, den schwarzen Sänger. Wir sind allein an Deck und genießen die Ruhe, wir  stützen uns entspannt mit den Armen auf die Reling und schauen abwechselnd in den Sternenhimmel und aufs Wasser. „Wenn ich länger über das Meer gucke, fühle ich mich schwerelos“, teilt er sich mit. „Ja, die Gedanken“ würden „leicht wie Luftballons“. Ganz gebannt sehen wir auf die Lichter in der Nacht, rechts Kopenhagen, links Malmö und dazwischen erstreckt sich die gewaltige Öresundbrücke über das Meer. Früher waren Dänemark und Schweden Erzfeinde, beide kämpften um die Vorherrschaft an der Ostsee. Das war einmal.

Ich frage Ben, ob er beim nächsten Gottesdienst mitmacht. „Laß uns einen Gospelgottesdienst machen!“ „Was? Ob das hierher paßt?“ „Na klar! Mache ich zu Hause auch.“ Wir beschließen, dafür einen Kinderchor zu gründen. Am nächsten Tag soll die erste Probe sein. Wir bitten noch den Wiener Barpianisten dazu. Mal sehen, wie’s wird! Das ist die Chance an Bord: Künstler zu gewinnen. In der Kirchengemeinde ist das schwierig und teuer, hier kein Problem.

Je ruhiger der Heist, desto tiefer die Eindrücke

Wieder ein neues Ziel: Stockholm. Der Kreuzfahrer gleicht einem Vagabunden. „Heute hier, morgen dort, bin kaum hier, muß ich fort …“ (Hannes Wader)  – es gibt so viel zu sehen, die Welt ist großartig. Überall nimmt er kurze Reize auf – und verspricht sich selbst: Irgendwann komme ich für länger wieder! 

Ein Schwede führt uns zum Königlichen Palast von Carl Gustav XVI. Er erzählt uns, daß die Thronfolgerin, Tochter Victoria, beliebter sei als der Vater. Gegen allen Widerstand setzte sie sich durch und heiratete einen Bürgerlichen. Das machte Eindruck. Sie hat eine militärische Grundausbildung absolviert und internationale  Friedenspolitik studiert. Ich erinnere mich an meine Diskussion nach dem Gottesdienst. Beides ist wichtig: Feindesliebe und Wehrbereitschaft.

Der Wachwechsel der Leibgardisten ist stimmungsvoll – mit Blasmusik und eindrucksvoller Choreographie der Marschierenden. Krieg habe das Land seit 200 Jahren nicht mehr erlebt, erfahren wir. Deshalb sind die alten Gebäude in Gamla Stan, der Altstadt, alle noch erhalten. Auch die Tyska Kirka, die deutsche Kirche. Wir singen dort spontan die erste Strophe von „Lobe den Herrn“ – hervorragende Akustik. 

Ganz gelassen geht es in Gudhjem auf Bornholm zu. Was für eine wunderbar verschlafene Insel. Dort wird die „Entdeckung der Langsamkeit“ praktiziert. Als wir wieder ablegen, sehe ich einen Passagier im Liegestuhl mit dem Buch, das diesen Titel hat. Wir kommen ins Gespräch, ich lade ihn in den Gymnastikraum ein zu meiner Einführung „Meditation im stillen Sitzen und in der Bewegung“. Je ruhiger der Geist, desto tiefer die Eindrücke! Das kann man üben. 

Dabei lerne ich einen der Teilnehmer besser kennen – einen quirligen Unternehmer. „Ich habe eine Karriere gemacht vom Tellerwäscher zum Millionär“, klärt er mich auf. Angefangen habe er mit einem alten Umzugsauto. Nun gehören ihm große Transporter. Ich frage ihn, ob er sich die Abwesenheit leisten kann, Selbständige würden doch immerzu arbeiten. Das sei kein Problem, man müsse seinen leitenden Angestellten nur vertrauen können. Sagt’s und genießt den bayrischen Mittag mit Schweinshaxe  unter freiem Himmel – und ist durch Meditation und regelmäßiges Joggen auf der 180-Meter-Laufbahn um das Sportdeck  gut drauf.

Nach Helsinki muß das Meer eigentlich wegen Überfüllung geschlossen werden. Alle Schiffe wollen nach St. Petersburg. Die großen Kreuzfahrtschiffe kämen da nicht mehr hinein, erfahre ich vom Kapitän, das Hafenbecken sei nur 240 Meter lang – zu klein zum Drehen.  

Auf  Landgang begleite ich eine kleine Gruppe vom Schiff, die die Stadt zu Fuß erkunden will. Wir besuchen mit einem russischen Stadtführer die fünf Kilometer schnurgerade Hauptstraße Newski Prospekt und bleiben bei einem „Hütchenspieler“ stehen. Plötzlich sprinten der Spieler und der „Gewinner“ davon – in der Ferne sieht man Polizei.Wir interessieren uns für Schachspieler. In der Stadt der Weltmeister bieten sie ein kurzes Spiel an – zehn Euro für den Sieger. Die Gruppe drängt mich auf den Stuhl am Tisch. Bauer e2 – e4 und weitere Züge sind noch sicher, dann wackelt meine Stellung und bricht zusammen. „Reingefallen!“, höre ich aus der Gruppe.

Metaphysische Gespräche mit einem Rechtsprofessor 

Am Abend lerne ich in der Bibliothek einen Rechtsprofessor kennen, und es kommt zum religiösen Gespräch. An Bord kommt das öfter vor als zu Hause. Die Menschen sind entspannt und fangen an zu philosophieren. Er teile nicht den christlichen Glauben, er sei „Pantheist“. Er meint, Gott sei nicht außerhalb der Schöpfung, sondern alles sei von göttlicher Art, Wind und Wellen, Sonne und Mond. „Was sagen Sie dazu?“ Ich wies auf den Anfang der Bibel hin: der Geist Gottes schwebt über dem Urwasser, das meint, göttliche Energie durchflutet die ganze Schöpfung. Darauf kann man sich einigen. Metaphysische Gespräche folgen. Zum Gottesdienst kommt er nicht, aber er schreibt mir religiöse Limericks, die ich dort verlese.

Unser Kreuzer bringt uns jetzt nach Reval (Estland) mit den vielen alten Gebäuden, engen Gassen, einem Rathausplatz mit Frauen in Trachten und einem historischem Markt. Eine ältere Frau vom Schiff spricht mich  an. „Herr Pfarrer, spenden Sie mir Trost!“ „Was bedrückt Sie?“ Sie erzählt, daß sie viele Reisen mit ihrem Mann gemacht habe, nun sei er tot und sie sei zum ersten Mal alleine unterwegs. „Das ist mutig von Ihnen.“ „Ja, mutig muß ich sein. Er hat immer alle Kontakte geknüpft, jetzt muß ich das lernen.“ Ich nehme mir Zeit für sie und höre ihr aufmerksam zu.

Über das alte deutsche Memel, heute Klaipeda (Litauen), mit der Ännchen-von-Tharau-Plastik geht es nun langsam  nach Kiel. Das letzte „Abenteuer“ ist unser Abschlußgottesdienst. Die Lounge ist voller Besucher. Der Pianist  beginnt, spielt „He’s got the whole world in his hands“. Sängerin Soleil stimmt ein, Ben kommt dazu, dann unser Kinderchor und schließlich stehen alle Besucher auf, singen, klatschen, loben Gott und spüren Frieden und Freude. 

Bald bin ich wieder als Bordgeistlicher unterwegs – in der Südsee. Ich bin gespannt auf die neuen Gäste an Bord – dann fange ich wieder bei null an.





Kreuzfahrtboom ungebrochen

Die Nachfrage deutscher Urlauber nach Hochsee-Kreuzfahrten ist ungebrochen. Insgesamt 1,81 Millionen Gäste reisten 2015 mit einem Kreuzfahrtschiff, was einem Wachstum von 2,3 Prozent (2014: 1,77 Millionen Gäste) entspricht. Das ist das Ergebnis der Studie „Der Hochsee-Kreuzfahrtmarkt Deutschland 2015“, die im Auftrag der CLIA Deutschland, der deutschen Niederlassung des internationalen Kreuzfahrtverbands Cruise Lines International Association (CLIA), und des Deutschen Reiseverbandes erstellt wurde.  Auch die weltweite Nachfrage stieg stärker als erwartet. Insgesamt 23,2 Millionen Hochseekreuzfahrtpassagiere gab es im vergangenen Jahr. Das entspricht einem Wachstum von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Für 2016 rechnet CLIA mit 24,2 Millionen Reisenden auf Hochseekreuzfahrtschiffen. Ein Großteil des Wachstums fand in den Märkten Asiens statt. 2015 verzeichneten sie mit einer Zunahme um 24 Prozent gegenüber dem Vorjahr und insgesamt mehr als zwei Millionen Passagieren das größte prozentuale Wachstum. Knapp dahinter folgt die Region, die Australien, Neuseeland und die Pazifik-Region umfaßt. Sie verzeichnete 2015 eine Steigerung um 14 Prozent. Allein aus Australien kamen mehr als 1,1 Millionen Passagiere.