© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Der Schlips verschwindet
Mogelpackung: Politiker und Wirtschaftslenker verzichten immer öfter auf eine Krawatte
Ronald Berthold

Irgend etwas stimmte nicht mit Frank-Walter Steinmeier, als er in Brüssel vor die wartenden Mikrofone trat. Nur was? Der Bundesaußenminister sprach einschläfernd wie immer, ohne etwas zu sagen. Selbst vor und nach den Worten „in aller Ernsthaftigkeit darüber reden“ kam nichts, was hätte aufhorchen lassen. Trotz seiner sechsminütigen Stellungnahme füllte nichts die inhaltliche Leere, woraus der Journalist in jenem September 2015 eine Nachricht hätte formulieren können.

Und doch, obwohl eigentlich alles erschien wie immer, war diesmal etwas anders als sonst: Der SPD-Politiker hatte den Kragen seines weißen Hemdes unter der grauen Anzugjacke geöffnet. Dadurch wirkte er noch blasser als gewöhnlich. Das paßte recht gut zur Farbe seiner Rhetorik, soll hier aber nicht thematisiert werden. Sondern etwas anderes: Die Krawatte fehlte!

Steinmeier folgt damit einem Trend, der vor der höchsten Diplomatie bisher noch haltgemacht hatte. Lediglich der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras tritt konsequent ohne Binder auf. Der Sozialist möchte damit erklärtermaßen demonstrieren, ein Armer unter seinen armen Landsleuten zu sein. Man mag es fast nicht glauben, aber genau dieses pseudo-gleichmacherische Argument hat auch in der Großindustrie dafür gesorgt, daß der Schlips immer öfter im Schrank bleibt.

Dieter Zetsche läuft schon länger oben ohne umher. Der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG sprach Anfang dieses Jahres sogar auf der Hauptversammlung vor all seinen Geldgebern ohne das einst unverzichtbare Accessoire. Auch Joe Kaeser, sein Pendant beim anderen deutschen Weltkonzern, Siemens, meidet neuerdings die Krawatte. Am weitesten geht Allianz-Chef Oliver Bäte, der nicht nur den obersten Hemdknopf sperrangelweit offen läßt, sondern dazu auch noch rote Sportschuhe trägt.

Dieser Dresscode ist mehr als eine Mode. Er ist Ausdruck einer neuen Philosophie, zu der auch die Abschaffung des Siezens gehört (JF 29/16). Steinmeier, Bäte, Kaeser und Zetsche wollen dasselbe sagen wie Pleite-Tsipras: „Hey, ich bin einer von euch!“ Doch, Achtung: Wer das ernst nimmt, sitzt einer Mogelpackung auf. Mit dem vorgeblichen Verlassen des Olymps wollen Politiker und Wirtschaftslenker ihren Untergebenen vor allem mehr Empathie entlocken und diese damit zu mehr Unterstützung und Leistung motivieren. Ein feiner Trick, der gerade bei Jüngeren funktioniert. Sie fühlen sich geschmeichelt, bekommen sogar mehr Verantwortung, das heißt in erster Linie: mehr Arbeit – aber leider weder einen besseren Posten noch mehr Geld.

Da der Schlips bisher in hohen Wirtschaftskreisen und auf politischer Ebene dazugehört hat, entfaltet vor allem dessen Verschwinden eine symbolische Wirkung. Allerdings geht es dann auch kaum noch tiefer. Legten Helmut Kohl und Michail Gorbatschow im Kaukasus einst die Krawatten ab, um aller Welt zu zeigen, wie gut sie sich verstehen und wie weit sie in der Lösung der deutschen Frage gekommen waren, ist eine solche Geste heute kaum noch möglich. 

Und was ist auf niederem Level mit dem Feierabendbier, zu dem der Chef einst seine Mitarbeiter einlud, den Schlips an die Garderobe hängte und damit signalisierte: Wir sind nicht bei einer Arbeitsbesprechung, sondern gehen zum geselligen Teil über. Wie sollen diese Gesten noch funktionieren, wenn ohnehin keiner mehr einen Binder trägt und sich sowieso alle duzen? Irgendwann hat sich die Schraube zu Ende gedreht; sie fällt dann nicht nur im übertragenen Sinne aus der Fassung. Was kommt dann? Freier Oberkörper?

Die Krawattenphobie im Geschäftsleben hat auch Folgen fürs Privatleben und nimmt den gesellschaftlichen Niedergang dorthin mit. Galt man früher ohne Krawatte in vielen Situationen als underdressed, so tritt heute der gegenteilige kuriose Fall in der Freizeit ein. Mancher kennt das: Freunde laden mehrere Paare zum Abendessen ein oder feiern mit zwanzig Leuten im Restaurant ihren Geburtstag. Wer hier mit Sakko und Hemd, also schon ohne Krawatte, erscheint, gilt als overdressed. „O, du hast dich aber schick gemacht!“ ist noch die freundlichste Bemerkung. Ins Unverschämte gleitet die ach so lustig gemeinte Frage ab: „Ist was mit Oma?“

Wer folgt also eigentlich wem, wenn es um die Verbannung des Schicks und die Herabsetzung des Kleidungsniveaus geht? Die Oberschicht der Mittel- und Unterschicht? Oder umgekehrt? Zumindest in Berlin ist schon seit Jahren zu beobachten, daß viele Menschen sich nicht großartig anders anziehen, ob sie nun in die Oper oder zu Hertha ins Olympiastadion gehen. Fehlt eigentlich nur noch, daß die Zuschauer von Mozarts „Zauberflöte“ demnächst im Fußball-Trikot dem „Papageno“-Gesang lauschen. Das paßt zu einer Stadt, in der der Regierende Bürgermeister auf den aktuellen Wahlplakaten ohne Schlips zu sehen ist und sich das Sakko mit dem Mittelfinger nur noch lässig über die linke Schulter hängt. Die andere Hand steckt in der Hosentasche.

Bei seinen Wählern fällt mehrheitlich auf, daß es oft kaum noch unterschiedliche Kleidung für unterschiedliche Anlässe gibt. Viele holen sich die gleichen Sachen aus dem Kleiderschrank, egal, ob sie sich zu Hause einen gemütlichen Videoabend machen, ins Theater oder in die Sportarena gehen. Mancher, der privat einen Kontrapunkt setzt, muß sich inzwischen schiefe Blicke und freche Sprüche gefallen lassen. Der gesellschaftliche Druck, ja gar die (Um-)Erziehung läuft also in Richtung Freizeitkleidung.

Hier könnten die Eliten stilprägend dagegenhalten. Doch wer trägt noch die bildschönen italienischen Seidenkrawatten? Und wer kann einen Schlips überhaupt noch richtig binden? Einer der wenigen, der jahrelang geschmackvoll mit dem eleganten Windsorknoten durch den Bundestag lief, war ausgerechnet Gregor Gysi. Die meisten seiner Parlamentskollegen beherrschten lediglich den sogenannten kleinen Krawattenknoten. Und wer von diesen Predigern der Vielfalt weiß noch, daß es rund 20 verschiedene Möglichkeiten gibt, den Schlips zu binden? Der Bundestag hob auf Antrag seiner Vizepräsidentin Claudia Roth bereits 2014 den Krawattenzwang für Schriftführer auf. Die Abgeordneten dürfen nun auch im T-Shirt Protokoll führen. Damit habe man „viel Muff entweichen lassen“, freute sich die Grünen-Politikerin. Mindestens ebensoviel Stil ist leider auch abhanden gekommen.