© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/16 / 12. August 2016

Eine Hauptbedingung zum Kriegführen
Bis zur Atomwaffe bestimmte die Industriestärke maßgeblich die Fähigkeit der Massenmobilisierung
Dag Krienen

Deutschlands Militärs machten sich über die Ursachen ihrer Niederlage im Jahre 1918 keine Illusionen. Kein Dolchstoß aus der Heimat, sondern die zahlenmäßige und wirtschaftliche Übermacht der Feinde sowie die Mängel der eigenen Kriegswirtschaft hatten den Ausschlag gegeben. 

Als in den Stäben der zwangsweise stark verkleinerten Reichswehr der zwanziger Jahre die ersten geheimen Planungen zum Wiederaufstieg Deutschlands zur militärischen Großmacht unternommen wurden, ging es nicht nur um die Größe, Bewaffnung und Struktur zukünftiger Streitkräfte, sondern auch um die wirtschaftliche und industrielle Vorbereitung für einen eventuellen weiteren „totalen Krieg“ (Ludendorff). 

Trat ein solcher Fall ein, galt eine Kriegführung ohne intensive wirtschaftliche und gesellschaftliche Mobilmachung als aussichtslos. Vor allem aber mußte eine solche Mobilmachung schon im Frieden vorbereitet werden. Militärische Vorbereitung und Stärke wurde von den Militärs so zunehmend nicht mehr nur als rein militärische, sondern als „gesamtgesellschaftliche“ Aufgabe betrachtet. Zu diesem Schluß kamen nicht nur die Verantwortlichen in Deutschland, sondern die aller damals existierenden Großmächte. 

Hohe industrielle Potenz war für den Krieg notwendig

Nach 1918 verminderten die Verlierer unter Zwang, die Sieger aus finanziellen Gründen die Präsenzstärke ihrer Truppen und die laufende Rüstungsproduktion stark. Zugleich aber wurden überall Wirtschaft und Gesellschaft in einem zuvor unbekannten Ausmaß „verrüstet“. Nicht im Sinne einer maximalen Rüstung vor dem Krieg, sondern zum Zweck einer möglichst „totalen Mobilmachung“ (Ernst Jünger) in einem zukünftigen Krieg. Forciert wurden vor allem die gedanklichen, planerischen und produktionstechnischen Vorbereitungen für eine rasche Umstellung von ziviler Wirtschaft und Gesellschaft auf die Bedürfnisse eines neuen, totalen Großkrieges. 

Daran beteiligten sich nicht nur die Militärs, sondern alle möglichen „zivilen“ Ressorts und gesellschaftlichen Organisationen. Allenthalben wurden Pläne und Maßnahmen zur vormilitärischen Ausbildung der Jugend, zur Arbeitskräftelenkung im Kriegsfall und zur Umstellung der Produktion ziviler Betriebe auf Rüstungsgüter vorbereitet, wurden die neuen Standorte wichtiger Industriezweige wie des Flugzeugbaus nach Gesichtspunkten strategischer Sicherheit festgelegt und wurde neben der Rohstoff- auch die Nahrungsmittelversorgung vorbereitet. 

Die blockadebedrohten Mächte bemühten sich zudem um Nahrungsmittel- und Rohstoffautarkie sowie den Aufbau einer Substitutionsfertigung wie der Kohleverflüssigung zur Gewinnung von Benzin und Kautschuk. An den Universitäten gewann die „Wehrwirtschaftskunde“ und die staatlich gelenkte naturwissenschaftlich-technische Großforschung an Boden, die technische Überlegenheit als Vorbedingung der militärischen anstrebte. Und es entstanden Planungsstäbe und ressortübergreifende „Ministerräte“ und „Generalbevollmächtigte“ zur Koordination all dieser Anstrengungen und ihrer einheitlichen Lenkung im Kriegsfall.

Dennoch blieb 1939 zunächst allenthalben die reale Mobilisierung weit hinter dem Ideal einer „totalen Mobilmachung“ zurück. Die komplexen Strukturen moderner Industriewirtschaften erwiesen sich als wesentlich schwerer beherrschbar als erwartet. Es brauchte nicht nur Zeit für die Umstellung und das Hochfahren der Produktion, sondern auch für die Lernprozesse, wie dieses am wirksamsten erfolgen könnte. Dies galt auch für das vorgeblich totalitär gelenkte Deutschland. Das einen ähnlichen Anspruch erhebende faschistische Italien erwies sich aufgrund seiner unzureichenden industriellen Basis sogar als völlig unfähig, einen modernen Großkrieg zu führen und schied schon lange vor seinem Kriegsaustritt aus dem Kreis der Großmächte aus. Carl Schmitts Diktum von 1939, daß nur sehr wenige Völker „einem modernen Materialkrieg aus eigener organisatorischer, industrieller und technischer Leistungskraft gewachsen“ seien und als „Völkerrechtssubjekte ersten Ranges“ in Frage kämen, bewahrheitete sich. Die Natur des industrialisierten Großkrieges führte zu einer rigiden Rangordnung in der Staatenwelt. 

In früheren Zeiten waren auch kleinere Staaten noch in der Lage gewesen, aus eigener Kraft vollwertige Truppen aufzustellen, die in Kombination mit den Truppen anderer kleinerer Staaten auch Großmächten Paroli bieten konnten. Nun brauchten selbst Industriestaaten mit beträchtlichem Rüstungspotential die technische und industrielle Hilfe von Großmächten, um halbwegs verwendbare moderne Streitkräfte aufzubauen.

Quantitative Überlegenheit wurde immer unwichtiger

Am Ende unterlag jedenfalls das anders als Italien zu einer erfolgreichen industriellen Mobilmachung befähigte Deutschland der kombinierten materiellen und numerischen Überlegenheit der Briten, Amerikaner und Sowjets und schied aus diesem Kreis aus. Auch wenn die Sieger von 1945 nominell an der Illusion der gleichen Souveränität aller Staaten festhielten, zählten nun nur noch die zwei Supermächte USA und Sowjetunion zu den wirklich souveränen Mächten in der Welt. Fast alle anderen Industriestaaten sahen sich in mehr oder minder großem Umfang zu ihren Vasallen degradiert. Ob Deutschland oder auch Großbritannien oder Frankreich bei einem anderen Kriegsverlauf eine Chance gehabt hätten, sich als erstrangige Großmächte zu behaupten, ist fraglich. 

Allerdings änderten sich die Grundlagen militärischer Stärke erneut fundamental. Die Verfügbarkeit von Atomwaffen führte das Ende der Ära der totalen Mobilmachung herbei. Ein jeder Großkrieg würde von nun an, noch bevor eine industrielle Totalmobilmachung würde Wirkung zeigen können, die nukleare Schwelle überschreiten und jeder Rüstungsfertigung ein rasches Ende bereiten. Konventionelle Rüstung diente nun vor allem dem Zweck, den Zwang, rasch und schon bei geringem Anlaß zu Atomwaffen zu greifen, zu verringern. 

Die Atombombe galt zeitweise sogar als „billige“ Waffe, weil sie scheinbar eine große Menge an herkömmlichen Truppen und Kriegsgerät ersetzen konnte. Zeitweise war eine sofort einsetzende „massive Vergeltung“ sogar offizielle Nato-Strategie, bevor sie der Ausbau des sowjetischen Nuklearwaffenarsenals unglaubwürdig werden ließ. Im Zuge der „Flexible Response“ wurden auch vom Westen wieder konventionelle Streitkräfte in beträchtlichem Umfang aufgestellt. Doch zählte nunmehr zunehmend die technische Qualität und Überlegenheit der Waffen. Eine „totale Mobilmachung“ war hingegen nicht mehr vorgesehen. 

„Krieg“ wurde so wieder zu einem Spezialgebiet eines kleinen, mehr oder minder abgeschotteten Segments der Gesellschaft, des Militärs und der Rüstungsindustrie. Mit merkwürdigen Folgen: Während in Deutschland im „Kalten Krieg“ soviel Soldaten und Waffen stationiert waren wie nie zuvor in Friedenszeiten, etablierte sich im Westen zugleich eine „postheroische“, allem Militärischen abholde „Zivilgesellschaft“, die keine Beziehung mehr zum „Ernstfall“ besaß.

Ein Element des Zeitalters des industriellen Krieges und der totalen Mobilmachung lebte allerdings in der neuen Ära fort: der technologische Rüstungswettlauf. Während sich der Wert quantitativer Überlegenheit immer mehr relativierte, stieg der Wert der qualitativen immer mehr an. Die Suche nach technisch weit überlegenen Waffen wurde von den Supermächten intensiviert, die Angst vor einer technologischen Lücke, in die der Gegner hineinstoßen konnte, war und blieb groß. Am Ende wurde der Kalte Krieg durch diese Angst entschieden, genauer gesagt durch einen technologischen Bluff, das Star-Wars-Programm des US-Präsidenten Reagan. Die technologisch immer stärker in Rückstand geratene Sowjetunion sah schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als sich auf das Abenteuer eines umfassenden gesellschaftlichen Umbaus einzulassen, um ihre Fähigkeiten zur technologischen Innovation deutlich zu verbessern. Das Ergebnis ist bekannt.





Industrieller Krieg

Spätestens 1916 zeichnete sich mit den großen „Materialschlachten“ bei Verdun (Februar bis Dezember) und der Anfang Juli gestarteten britisch-französischen Großoffensive an der Somme (bis November) ab, daß die Kriegführung nicht mehr allein von der Quantität und Qualität der militärischen Kämpfer abhing, sondern sich vielmehr auf die industrielle Potenz der kombattanten Staaten stützte. Zum 100. Jahrestag der Somme-Schlacht startete die JF eine dreiteilige Serie über die Bedeutung der wirtschaftlichen Grundlagen für die Kriegführung.