© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Pankraz,
Julian Jaynes und das doppelte Gehirn

Seine treuen Leser wissen es: Pankraz nimmt gern ein längst erschienenes, höchst ungewöhnliches und dennoch aus irgendeinem Grund beiseite gelegtes Buch mit in den Sommerurlaub, um es endlich einmal in aller Ruhe durchzulesen. Diesmal war es die im August 1976 herausgekommene Originalausgabe von „The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind“ des hochgelehrten Psychologen und Althistorikers Julian Jaynes (1920–1997) von der Princeton University im US-Bundesstaat New Jersey.

Ein begeisterter Kritiker pries das Buch sofort nach Erscheinen als „Urknall aller seriösen Bewußtseinsforschung“; andere Leser stürzten sich wie wild auf den Band, zerrissen ihn in der Luft und beschimpften seinen Autor als Dummkopf beziehungsweise frechen Märchenerzähler. Der „Origin“ machte kurzfristig weltweit Sensation, wurde dann aber von der gerade in jener Zeit mächtig einsetzenden Gehirnforschung verächtlich vom Tisch gefegt und fortan bewußt ignoriert.

Pankraz sagte sich damals, wenn er sich recht erinnert, vorlauterweise „Was ist ein Knall, bewußtseinsmäßig? Wahrscheinlich nicht von ungefähr sagt man ja von jemand, der momentan nicht ganz richtig im Kopf ist, der habe einen Knall. So wird es wohl auch mit Herrn Professor Jaynes sein.“


Heute, genau vierzig Jahre nach Erscheinen des Buches und nach vierzig Jahren zwar üppig honorierter, aber äußerst erkenntnisarmer Gehirnforschung, ist sich Pankraz nicht mehr so sicher. Denn die ausgeruhte, aus sicherer Zeitdistanz geübte Urlaubslektüre ergab zunächst einmal, daß es Jaynes selber ist, der in seinem Buch unentwegt von einer Art Knall erzählt. Alle bei ihm auftretenden Gestalten, auch und gerade die berühmtesten, vom altgriechischen Barden Homer bis zum alttestamentarischen Propheten Amos, haben einen Knall im Sinn der Redensart, sogar einen ausgemachten Urknall. 

Die spektakuläre Pointe des Buches besteht in der Behauptung, daß vor dem Jahr 1000 v. Chr. wirklich alle Menschen, jeder einzelne für sich und alle zusammen, buchstäblich verrückt waren, nämlich an Schizophrenie litten, und daß sich das menschliche Bewußtsein, das reflektierende Ich-Gefühl, erst seit etwa jenem Jahr entwickelt habe.

Schizophrenie ist an sich eine schwere Krankheit, ein genetischer Schaden, der durch das Fehlen eines Enzyms entsteht, das die Ausscheidung des biochemischen Produkts von Streß verhindert. Der schizophrene Patient ist eine tragische Gestalt und im fortgeschrittenen Stadium seiner Krankheit kaum noch sozialisierbar. Weshalb sollte das – so fragt der Jaynes-Leser spontan – in den frühen Zivilisationen der Menschheit anders gewesen sein? Und wie ist das Enzym, wenn es damals fehlte, ins Genom aller Menschen hineingekommen?

Jaynes behauptet nicht mehr und nicht weniger, als daß die altgeschichtlichen Menschen in Ägypten, Mesopotamien oder dem mykenischen Griechenland bloße Automaten gewesen seien, die den Befehlen ihrer Götter gehorchten, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. Die Götter ihrerseits seien nicht bewußt vorgestellt, sondern physiologisch halluziniert gewesen, ganz so wie ein Schizophrener auch heute noch „Stimmen“ und „Erscheinungen“ halluziniert.

Daß unser Sprachvermögen in der linken Gehirnhälfte konzentriert sei, müsse darauf zurückgeführt werden, sagt Jaynes, daß die rechte Gehirnhälfte „für die Götter“ habe frei bleiben müssen. Der „Bereich des göttlichen Sprechens“ habe durch den vorderen Nervenstrang mit dem Sprachzentrum „kommuniziert“; „Sprechen rechts und Hören (und Gehorchen) links“ sei also die „bikamerale“ Organisation des Gehirns vor dem Jahr 1000 v. Chr. gewesen.


Als dann in Folge der Katastrophen, die am Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. über die levantinisch-ägäischen Urzivilisationen kamen (Kraterausbruch von Santorin und damit riesige Flutwelle vulgo „Sintflut“, assyrische Großmachtpolitik, Völkerwanderungen), die kleinen, theokratisch verfaßten Stadtstaaten zerfielen, zerfiel auch die theokratische Orientierung des einzelnen Menschen. Die Götter – sie schwiegen plötzlich und verschwanden schließlich ganz, und der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch mußte als neuen Entscheidungsraum wohl oder übel ein eigenes Bewußtsein ausbilden; so also sei das menschliche Bewußtsein entstanden, das Ichgefühl, die Denkfreiheit.

So knapp vorgetragen, klingt das Ganze in den Ohren vieler wohl tatsächlich  schlicht aberwitzig. Doch der aktuelle Leser, der inzwischen weiß, daß auch die neueste Gehirnforschung dem Rätsel des Ich-Bewußtseins um keinen Schritt näher gekommen ist, wird gerade durch die ausgedehnten kulturgeschichtlichen Analysen Jaynes’ in seinen Bann gezogen. Tatsächlich gibt es in Homers „Ilias“ faktisch zwei Arten von Wesen: auf der einen Seite die Menschen wie Achilles, auf der anderen die unsterblichen Götter.

Diese treten immer dann auf, wenn eine Entscheidung fallen muß. Sobald eine neue Situation zu bewältigen ist, hört jemand Stimmen oder sieht einen Gott oder eine Göttin, die ihm sagen, was er zu tun hat. Als Agamemnon dem Achilles die geliebte Briseis wegnehmen will, zieht der Held sein Schwert und will sich auf den König stürzen. Doch da „erscheint“ Athene und verbietet es ihm. Voller Schmerz geht Achilles ans Meer. Dort „erscheint“ ihm Thetis und gibt ihm Anweisungen, wie er sich weiter zu verhalten habe – Bikameralismus.

Und ist nicht auch noch unsere moderne Poesie, fragt Jaynes, weithin geprägt von der Sehnsucht nach den verlorenen Göttern? Ist nicht unsere ganze Ethik der verzweifelte Versuch, einen Ersatz für die „ausbleibenden Stimmen“ zu finden? Liegt nicht selbst in der Einnahme von Drogen eine – ins Unheilvolle umdrehende – Sehnsucht nach der „verlorenen Gehirnhälfte“? Bevor wir unseren wissenschaftlich-selbstgewissen Daumen nach unten wenden, sollten wir solche Fragen ruhig erst einmal auf uns wirken lassen.