© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Er visierte den Weltstaat an
Aus kleinbürgerlichen Verhältnissen: Der englische Schriftsteller H.G. Wells gilt als Prophet der Moderne
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der im September vor 150 Jahren geborene und im August vor 70 Jahren in London gestorbene Herbert George Wells war nicht nur einer der prominentesten Autoren seiner Zeit, sondern auch lange die vielleicht am meisten beachtete Stimme Englands im europäischen und transatlantischen Austausch politisch-sozialer Ideen. Inwieweit verdient er heute noch unsere Aufmerksamkeit?

Der bescheidensten Verhältnissen entstammende Wells, der die Beschränkungen des kleinbürgerlichen Milieus seiner Jugend in Romanen wie „Kipps“ (1905) oder „The History of Mr. Polly“ (1910) humorvoll-satirisch festgehalten hat, wurde frühzeitig zum scharfen Kritiker des von ihm in jeder Hinsicht als beengend empfundenen Viktorianismus. Das ihn bedrückende Beharrungsvermögen viktorianischer Mentalität kompensierte er durch seine in zeitliche und räumliche Ferne ausgreifende, zukunftsgerichtete Phantasie. Mit sogenannten wissenschaftlichen Märchen, deren visionäre Kraft bis heute unübertroffen ist, etablierte sich Wells als Pionier der modernen Science-fiction-Literatur. In mittlerweile klassischen Werken wie „The Time Machine“ (1895), „The Invisible Man“ (1897), „The War of the Worlds“ (1898) und „The First Men in the Moon“ (1901) beschwor er eine soziale Virtualität, deren Denkanstöße gerade in unserer szientifisch-technologisch geprägten Welt nachvollziehbar sein dürften.

Die gesellschaftliche Reichweite aller Wellsschen Spekulationen über die Zukunft der Spezies Mensch wird bereits in „The Time Machine“ (Die Zeitmaschine) sichtbar. Anders als dem primär auf die Demonstration des technisch Möglichen erpichten Jules Verne ging es Wells immer um das frühzeitige Aufspüren etwaiger anthropologisch-sozialer Auswirkungen der wissenschaftlichen Triebkräfte. In „The Time Machine“ entwirft Wells unter Orientierung an Thomas Henry Huxley, dem Propagandisten Darwins, bei dem er Biologie studiert hatte, ein Szenario negativer Evolution und projiziert die menschliche Entwicklung in das sinistre Jahr 802701. Der Fernblick soll den Nahblick schärfen. Die Polarisierung zwischen Eloi, den anmutig-dekadenten Oberweltlern, und Morlocks, den physisch abstoßenden und verrohten Unterweltlern, ist Wells’ Fortschreibung von Disraelis sozialkritischem Konzept der zwei Nationen. Die Nemesis in Gestalt der ihre einstigen Gebieter verzehrenden Morlocks birgt Zündstoff für unsere Gegenwart in Anbetracht der sich beschleunigenden, weltweiten Aufspaltung in Arme und Reiche mit der Dritten Welt als unheilschwanger tickender Zeitbombe.

Wells „Zeitmaschine“ wurde mehrfach verfilmt; am bekanntesten ist wohl die erste Version von 1960 mit Rod Taylor in der Hauptrolle.

Hörspielfassung löste eine Massenpanik aus

Wells’ faszinierende Einbildungskraft schlägt sich in „The War of the Worlds“ (Krieg der Welten) in einer spiegelverkehrten Beleuchtung kolonialer Praktiken nieder. In dieser minuziösen Schilderung einer verheerenden Katastrophe verwandeln die roboterhaften Invasoren vom Mars mit ihren Hitzestrahlen idyllische südenglische Landstriche in eine apokalyptische, alptraumhaft-surrealistisch gezeichnete Landschaft. Die Rückwirkung der Wellsschen Imagination auf die Wirklichkeit konnte man übrigens nicht ohne Beklemmung 1938 beobachten, als die den örtlichen Gegebenheiten angepaßte Hörspielfassung von Orson Welles in Amerika eine Massenpanik auslöste.

Wie leicht seine imaginativen Experimente selbst bei scheinbarer Verstiegenheit den Nerv unserer Zeit treffen können, veranschaulicht seine Kurzgeschichte „The Stolen Bacillus“ (1894), in der Bakterien terroristischen Anschlägen dienen. Bereits in „The World Set Free“ (1914) hat er den Atomkrieg vorausgesehen.

In der im Jahr 2100 angesiedelten und weltweite Tendenzen extrapolierenden Utopie „When the Sleeper Awakes“ (1899; dt. Wenn der Schläfer erwacht) nahm Wells die künftigen Dimensionen technisierter Riesenstädte in den Blick. Auch hier wird die Spaltung in Ober- und Unterklassen, in moralisch-sittlich indifferente Plutokraten und die sich zu einer eigenen biologischen Art entwickelnde, geistig verkümmerte und auf George Orwells Proletarier in „Nineteen Eighty-Four“ (1984) vorausweisende Arbeiterschaft an den Problemhorizont der Zukunft geschrieben. Die spezifische Aktualität dieser Erzählung beruht auf der Vorausahnung global agierender, Monopole bildender Finanz- und Geschäftsorganisationen, die Regierungen ihre Interessen aufzwingen und sogar das Erziehungssystem für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Ein ominöses Glanzstück von „When the Sleeper Awakes“ stellt die Schilderung der Reklame dar, die mit ihrer Allgegenwart das gesamte Leben überwuchert. Ein Jahrzehnt später hat Wells mit „Tono-Bungay“ (1909) der Werbung als Mitte der modernen Welt sogar einen ganzen, nach einer Schwindelmedizin benannten Roman gewidmet. Kein anderer Autor hat mit vergleichbarer Witterung die nivellierende Macht der Reklame so frühzeitig und klarsichtig erkannt.

In Essays, die das Künftige stärker aus soziologischer Warte anpeilten, machte Wells seit der Jahrhundertwende die durch die technologische Entwicklung vorangetriebene Globalisierung – der Begriff war um 1900 noch unbekannt – zu seinem Thema. Das heute in vieler Hinsicht als bedrohlich empfundene Phänomen wurde von dem nominellen Sozialisten Wells primär als Chance für Ansätze zu großzügigerer Gesellschaftsplanung wahrgenommen. Die skeptisch-pessimistische Sichtweise seiner frühen Science-fiction wurde dabei immer mehr von einem optimistischen Ausblick abgelöst.

In „Anticipations“ (1901) geht er von der rasanten Beschleunigung des Entfernungen überwindenden Verkehrs aus und erwartet eine mobile, zunehmend in Migration befindliche und in ausgedehnte urbane Regionen drängende Bevölkerung. Die von der Ökonomie schon vorgezeichneten Ansätze zu makrosozialem Zusammenschluß verfolgt er bis zu dem von ihm anvisierten Endstadium des Weltstaats als eigentlicher Bestimmung der Menschheit. Der Weltstaatsgedanke wurde Wells’ publizistisches Markenzeichen.

Die ihn inspirierende Weltstaatsidee hat er in der Essaysammlung „Mankind in the Making“ (1903) und in „A Modern Utopia“ (1905) sogleich weiterverfolgt. Als englischer Patriot hat er freilich seiner eigenen Nation in diesem kosmopolitischen Bau über panangelsächsische Bestrebungen stets eine privilegierte Rolle zuerkannt.

Wells wünschte sich eine Weltenzyklopädie

In allen seinen Werken läßt Wells trotz seiner sozialistischen Sympathien die Welteinheit durch Intervention von oben zustande kommen und überträgt die Staatsgeschäfte einer funktionalen, naturwissenschaftlich geschulten Elite, die letztlich ein Regieren traditioneller Art überflüssig machen soll. Dieses Endstadium ist in einer weiteren Utopie, „Men Like Gods“ (1923), erreicht. Die Kombination von Vertrauen in globale Gesellschaftsplanung und Vertrauen in die Technik als Motor unaufhaltsamen Fortschritts brachte es mit sich, daß Wells trotz Eintrübung der mentalitätsgeschichtlichen Großwetterlage als einer der letzten Autoren noch positive Utopien zu schreiben vermochte, deren optimistische Grundhaltung ihn zur literarischen Hauptzielscheibe von Antiutopisten wie Aldous Huxley und Orwell machte.

Die epochale Zäsur des Ersten Weltkrieges beflügelte Wells in seinem Pochen auf eine rationale, die Menschheit von nationalen Egoismen befreiende Politikgestaltung. Dabei richtete er seine Hoffnungen zunehmend auf die aufklärerische Wirkung enzyklopädisch-didaktischer Schriften. So setzte er mit seiner später sogar von dem Historiker A.J.P. Taylor gelobten, als Universalgeschichte angelegten „Outline of History“ (1920; dt. Die Weltgeschichte) ein Zeichen für eine nationale Engstirnigkeit bekämpfende Geschichtsschreibung. Von den zaghaften und verlogenen Ansätzen des von ihm zunächst begrüßten Völkerbundes bitter enttäuscht, setzte er sich als trotziger Widerpart zu zwischenstaatlichem Traditionalismus in Szene, um die seiner Meinung nach in den internationalen Beziehungen waltende Anomie (Durkheimscher Wortprägung) zu überwinden.

Wells, der sich selber stolz als Journalisten bezeichnete, wirkte jetzt ganz als Publizist mit einer heute kaum vorstellbaren Ausstrahlung. Die Großen der Welt wie Franklin D. Roosevelt und Stalin haben ihn in der Zwischenkriegszeit empfangen. Von dem schwärmerischen Gedanken einer offenen Verschwörung durchdrungen, propagierte Wells einen Paradigmenwechsel im politischen Denken. Sein an den Philosophen und Staatsmann Francis Bacon erinnerndes Vertrauen in die Macht des Wissens artikulierte er am selbstbewußtesten in „World Brain“ (1938); dort weist er der von ihm herbeigewünschten Weltenzyklopädie eine Kontrollfunktion für die Ausräumung von Mißverständnissen zu. In Wells’ Konzeption der Weltenzyklopädie als eines demokratisch-offen zu organisierenden Netzwerks für die permanente Bereitstellung, Verbreitung und Aktualisierung des Wissens sehen manche die Keimzelle des Internets.

Wells’ hyperbolische Rolle als selbsternanntes Weltgehirn darf man als missionarische Überspanntheit belächeln, ohne seine Stimme als unermüdlicher Anwalt des Weltstaats überhören zu müssen. Der nach wie vor als regulatives Postulat auf der politischen Tagesordnung stehenden Forderung nach Etablierung einer Weltinnenpolitik hat Wells beharrlich vorgearbeitet. Das gegenwärtige Zeitalter der Globalisierung mit seinem gewaltigen Veränderungspotential hat seinen diskursiven Vorlauf im vielschichtigen Werk von Wells. Als Literat der Globalisierung ist er unser Zeitgenosse.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Virginia Woolf (JF 13/16).