© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/16 / 19. August 2016

Die Zeit der Fülle ist bald vorbei
Momentaufnahmen vom ökologischen Zustand unseres Wasserplaneten / Überbetonung der Klimafrage?
Christoph Keller

Mit einer auffallend infantilen Floskel faßt der EU-Gesetzgeber zusammen, was die im Akkordtempo produzierten Brüsseler Normen umweltpolitisch bewirken sollen: einen ökologisch „guten Zustand“ für Luft, Wasser, Boden, Artenvielfalt. Mit der Proklamation derart hehrer Ziele beweist die EU aber bestenfalls ihren „guten Willen“, während es mit der Erfüllung des ehrgeizigen Plansolls regelmäßig hapert. In diese tiefe Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit gewährt das Themenheft „Meeresschutz“ der Münchner Zeitschrift Politische Ökologie (145/16) Einblicke, die notorischen Schwarzsehern im Umweltbereich reichlich Stoff liefern.

Kritik an Öko-Musterknabe Deutschland

Zum Auftakt präsentiert der Meeresbiologie Thilo Maack (Greenpeace Deutschland) ein düsteres Fresko mit jüngst in den Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit gerückten Themen wie Plastikmüll in den Ozeanen (JF 24/16) und Tiefseebergbau (JF 11/14). Auch Dauerbrenner wie Überfischung, Versauerung und Korallentod fehlen nicht, um die Diagnose zu untermauern, unser zu 70 Prozent von Meeren bedeckter Wasserplanet stecke in einer historisch singulären Krise. Kein Wunder daher, wenn die konsequente Umsetzung der EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie von 2008, die für 2020 den erwähnten „guten Zustand“ anpeilt, genauso auf sich warten lasse wie ein effektiver gesetzlicher Schutz der bereits 2004 als Natura-2000-Gebiete ausgewiesenen Flächen in Ost- und Nordsee, die der selbsternannte Öko-Musterknabe Deutschland bislang aber „lediglich auf dem Papier“ schütze.

Ebensowenig hoffnungsfroh stimmt die Lageanalyse des Kieler Professors für Klimaphysik Mojib Latif. Auch der ewige Interview-Partner von ARD und ZDF in Sachen Klimawandel weist auf die durch das Warmwetterphänomen El Niño noch eskalierte, in diesem Ausmaß nie dagewesene Korallenbleiche, die in diesem Sommer die Hälfte des Großen Barriereriffs vor Australiens Ostküste erfaßt habe. Ein Phänomen, das sich einfüge in die Serie der vierzehn global wärmsten Sommer, die alle im 21. Jahrhundert liegen und die für Latif „klar“ auf den Anstieg der Treibhausgase in der Atmosphäre und die dadurch verursachte Erderwärmung zurückgehen.

Da die globale Temperatur seit Beginn des Industriezeitalters im späten 18. Jahrhundert um ein Grad Celsius gestiegen ist, setze dieser Prozeß mittlerweile am Zustand der Weltmeere deutlich ablesbare, dramatische Veränderungen in Gang. Der Meeresspiegel ist seit 1900 um knapp 20 Zentimeter gestiegen. Gegenwärtig messe man weitere 0,35 Millimeter jährlich. Erhöhe sich die Erdtemperatur bis 2100, wie prognostiziert, bis zu vier Grad, steige der Meeresspiegel um bis zu 90 Zentimeter, so daß schon, wie Thilo Maack warnt, in den nächsten Jahrzehnten unzählige Tropeninseln im Pazifik vom Salzwasser überspült würden. 

Parallel zur Erwärmung der Ozeane vollziehe sich deren Versauerung durch Kohlendioxideinträge. Seit 1800, so rechnet Latif vor, hätten die Menschen den Säuregrad der Weltmeere mit einer Geschwindigkeit nach oben getrieben, „die mindestens zehnmal schneller ist als im Verlauf anderer Klimaepochen mit sehr hohen CO2-Gehalten“. Da die ozeanische CO2-Aufnahme den höheren Verbrauch von Karbonat bedingt, das dann Meeresorganismen wie Korallen, Muscheln, Krebsen oder Kalkalgen für den Aufbau ihrer aus Kalk bestehenden Schalen oder Skelettstrukturen fehlt, „riskieren wir nicht weniger als ein Massenaussterben in den Ozeanen“. Auf der Ende Dezember 2015 in Paris veranstalteten UN-Klimakonferenz (COP 21) einigten sich die Teilnehmer zwar erstmals darauf, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Erderwärmung bis 2100 auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Doch das sei „so gut wie ausgeschlossen“. Es gelänge nur, wenn man – illusorisch genug angesichts der weltweiten Zunahme der CO2-Emissionen seit 1990 um 60 Prozent – die Treibhausemissionen „sofort“ auf nahezu null reduziere. Bei aller Skepsis hält Latif es trotzdem für möglich, die „Herkulesaufgabe“ zu meistern und die Erderwärmung zumindest zu deckeln. Jedenfalls wäre vordringlich an der CO2-Schraube zu drehen, um die Ozeane zu retten.

Ausbau von Schutzgebieten wegen Überfischung

Lösungen für die übrigen in diesem Themenheft erörterten Probleme, die von der Überfischung bis zu den Umweltfolgen der Schiffahrt (15 Prozent der globalen Stickoxid- und 13 Prozent der Schwefeldioxidemissionen) und den im Ballastwasser nach Europa eingeschleppten invasiven Arten reichen, sind dafür zumeist notwendige, aber keine hinreichenden Voraussetzungen.

Daran ist zu erinnern, wenn die an der Dalhousie University in Halifax/Kanada lehrende Meeresbiologin Heike Lotze vorsichtigen Optimismus nährt, indem sie Anzeichen von Erholung bei 42 Prozent von 182 Meeressäugerpopulationen meldet. Zumal sie zugleich einräumt, nur zwölf Prozent von 232 dezimierten Fischbeständen wiesen eine gute, hingegen 40 Prozent seit 2000 gar keine Erholung auf. „Die Zeit der Fülle“ scheinbar unerschöpflichen Fischreichtums sei jedenfalls vorbei.

Immerhin hätten viele Regierungen das Überfischungsdesaster heute begriffen und antworteten darauf mit dem Ausbau von Schutzgebieten. Die wiederum wenig helfen, wenn man nicht, worauf zwei Mitarbeiter der für „Umweltgerechtigkeit“ eintretenden britischen Organisation Environmental Justice Foundation hinweisen, die öffentlich kaum beachtete, vor Westafrikas Küsten konzentrierte illegale Fischerei stoppe, die der Weltwirtschaft jährliche Schäden von bis zu 19 Milliarden Euro zufüge.

Nach Ansicht von Jerry Percy, Geschäftsführer der erst 2014 gegründeten, heute schon 7.000 Mitglieder zählenden Kleinfischer-Vereinigung Low Impact Fishers of Europe, stehe ohnehin eine radikale Umkehr auf der Tagesordnung der EU-Fischereipolitik, weg von den industriellen Fangflotten, zurück zur nachhaltigen Klein- und Küstenfischerei. Freilich verkennt Percy, daß die Nachhaltigkeit verbürgenden „Küstengemeinschaften“, ihre Wissen und Fertigkeiten von Generationen speichernde maritime Kultur, nicht nur an Nord- und Ostsee von der den industriellen Fischfang favorisierenden EU-Bürokratie seit 40 Jahren systematisch zerschlagen wurden.

In deutschen und skandinavischen sowie in vielen Küstenorten des Mittelmeerraums gehören Fischer, wie demnächst vielleicht eine andere Brüsseler Opfergruppe, Europas Landwirte, einer aussterbenden Art an. Als Beitrag zur Regeneration der Meeresfauna käme Percys Plädoyer für die umweltschonende Kleinfischerei deshalb eventuell zu spät. Auch wenn nun Greenpeace dafür wirbt und in diesem Heft Maria Damanaki, von 2010 bis 2014 griechische EU-Kommissarin für maritime Angelegenheiten und Fischerei, Percy enthusiastisch beispringt, indem sie die Kleinfischer zu „idealen Verbündeten für die Implementierung der neuen Gemeinsamen Fischereipolitik Europas“ kürt.

„Meeresschutz – Von der Rettung des blauen Planeten“ (Politische Ökologie 145/16): www.oekom.de