© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Indiskretion Ehrensache
„Türkei-Leck“: Hinter der Weitergabe eines geheimen BND-Berichts steckt kein Versehen, sondern möglicherweise eine Palastrevolte
Paul Rosen

Das sommerliche Berlin hat eine kleine Sensation: Es riecht nach einer Palastrevolte gegen die Bundeskanzlerin. Das von Angela Merkel sorgfältig aufgebaute Kartenhaus der Willkommenspolitik ist durch einen Windstoß aus den eigenen Reihen zusammengefallen. Merkel ist in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, auch wenn es noch zu früh erscheint, von einer „Kanzlerinnenkrise“ zu sprechen.

Anlaß ist ein offenbar gezielt an die Öffentlichkeit lancierter Bericht des Bundesnachrichtendientes (BND). Danach soll die Türkei „zentrale Aktionsplattform“ für islamistische Gruppierungen sein und verschiedene Terroristen in Nahost unterstützen. Sogar Präsident Erdogan soll das mittragen. 

Was am Mittwoch, den 17. August, von den Nachrichtenagenturen auf die Bildschirme im politischen Berlin transportiert wurde, ließ selbst erfahrene „Stallwächter“ in der hochsommerlich verschlafenen Hauptstadt die Augen reiben. In einer Antwort auf eine von der Abgeordneten Sevim Dagdelen initiierten Kleinen Anfrage der Linksfraktion antwortete die Bundesregierung zwar wie üblich weitgehend nichtssagend, aber mit getrennter Post ging ein als „Verschlußsache – nur für den Dienstgebrauch“ gekennzeichneter BND-Bericht an die Linksfraktion. Die Fraktion wurde von Innen-Staatssekretär Ole Schröder (CDU) noch ausdrücklich mit dem Hinweis, die Beantwortung der Frage, ob die islamistischen Muslimbrüder in der Türkei seit Erdogans Machtantritt an Einfluß gewonnen hätten, könne „aus Gründen des Staatswohls nicht offen“ erfolgen, auf den brisanten Charakter des BND-Papiers hingewiesen. Prompt landete der Bericht in den Nachrichtenagenturen.

Die Einschätzung der Schlapphüte von der islamistischen Aktionsplattform Türkei hat es in sich: Zahlreiche Solidaritätsbekundungen und Untersützungshandlungen für die ägyptischen Muslimbrüder, die Hamas und Gruppen der bewaffneten islamistischen Opposition in Syrien durch die Präsidentenpartei AKP und Erdogan selbst „unterstreichen deren ideologische Affinität zu den Muslimbrüdern“. 

Selbst für Fachleute ein ziemlich einmaliger Vorgang

Die Auswirkungen waren heftig: Das Verhältnis zur Türkei, schon heftig gestört wegen deutscher Kritik an Unterdrückung der Opposition durch Erdogans Regierung sowie durch das Redeverbot für den Präsidenten per Videobotschaft auf einer Türken-Demonstration in Köln, bekam einen weiteren großen Knacks. 

In Berlin begann derweil ein Possenspiel bei der Suche nach Verantwortlichen. In der Bundespressekonferenz wurde deutlich, daß Regierungssprecher Seibert und auch das Auswärtige Amt völlig überrascht waren und Mühe hatten, zur Sprachregelung zu finden, die Türkei sei „ein wichtiger Partner im Kampf gegen den Terrorismus“. Ähnlich äußerte sich später Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der den Bericht als „kleinen Ausschnitt der aktuellen Lage im Land“ herunterzuspielen versuchte. 

Das Innenministerium erklärte die Übersendung des BND-Papiers genauso wie die Nichtbeteiligung des Auswärtigen Amtes an der Formulierung der Antwort zum „Büroversehen“. Das Auswärtige Amt sei wegen eines Buchstabendrehers in der Mailadresse nicht erreicht worden, hieß es – als ob solche Mailadressen nicht gespeichert würden und als ob unzustellbare Mails nicht an die Absender zurückkommen würden. Selbst altgedienten Fachleuten kommt die Übersendung eines so delikaten Geheimdienstberichts an eine Oppositionsfraktion als ziemlich einmaliger Vorgang vor.

Normalerweise flüchtet sich die Regierung auf kritische Anfragen in nichtssagende Antworten. Vertrauliches wird gelegentlich in der Geheimschutzstelle des Bundestages zur Einsichtnahme ausgelegt – aber nie verschickt. 

Hier kommt der Name des Staatsekretärs Schröder (CDU) ins Spiel, der Ehemann der CDU-Bundestagsabgeordneten und früheren Familienministerin Kristina Schröder. Beide verbindet nicht nur das Ehegelübde, sondern eine sehr tiefe Abneigung gegen Merkel und das System Merkel. Beide treten, obwohl in einem Alter, in dem Karrieren noch lange nicht zu Ende sind, im nächsten Jahr für den Bundestag nicht wieder an. 

Für die Bereitstellung des BND-Berichts, darauf wurde in mehreren Zeitungsberichten hingewiesen, ist aber eine Beteiligung des Kanzleramtes notwendig, wo solche Berichte auflaufen und verfügbar sind. Es wäre Ausdruck des höchsten Machiavellismus, Merkel selbst hinter der Aktion zu vermuten, um auf den wachsenden Unmut gegen ihre Verbindung mit dem zunehmend islamistischer werdenden Präsidenten Erdogan zu reagieren. Das würde heißen, sie hätte einen Eckpfeiler ihrer eigenen Politik zerstört, was angesichts von Merkels Unbeweglichkeit in der Flüchtlingsfrage eher unwahrscheinlich ist.

Möglich erscheint, daß Helge Braun (CDU), Staatsminister im Bundeskanzleamt und wie Kristina Schröder aus Hessen, seine Hände mit im Spiel hatte. Immerhin gehören Flüchtlingsfragen zu seinem Arbeitsgebiet. 

Der Kreis schließt sich, wenn man sich ein weitgehend unbeachtetes Papier von CDU-Politikern der zweiten Reihe mit dem Titel „Freiheit, Sicherheit, Wohlstand. Wie wir Vertrauen zurückgewinnen“ anschaut. Es wurde unter anderem von beiden Schröders und Braun sowie vom zuletzt immer mehr auf Distanz zu Merkel gehenden Finanzstaatssekretär Jens Spahn (CDU) verfaßt. Ein Kernsatz daraus: „Ein Boot zu besteigen, darf nicht gleichbedeutend sein mit der Ansiedlung in Europa.“ Das ist genau das Gegenteil von Merkels „Wir schaffen das“-Politik.

Jeder Aufstand beginnt mit einem ersten Schuß. Das könnte er gewesen sein.