© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Der Geduldsfaden scheint gerissen
Türkei: Im Kampf gegen den IS und kurdische Freischärler verschärft Ankara die Gangart / Blutiger Grenzkonflikt erwartet
Marc Zoellner

Dscharabulus bereitet sich auf seine Erstürmung vor. Fluchtartig, berichten Beobachter, verließen Kolonnen von Jeeps und Milizionären die kleine, am Westufer des Euphrat gelegene syrische Gemeinde in Richtung Süden. 

Schon vor Wochen habe der Islamische Staat, der Dscharabulus seit Juni 2013 unter seiner Kontrolle hält, Familienangehörige seiner Anhänger nach Rakka, der Hauptstadt des selbsternannten Kalifats, evakuiert. Was bleibt, sind Heckenschützen, Selbstmordattentäter sowie systematisch verminte Landstriche.

„Unsere Grenze muß vom IS gesäubert werden“ 

Die Stadt Dscharabulus ist strategisch besonders bedeutsam geworden: Denn nach der Eroberung des östlicher gelegenen Kobane durch die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sowie des westlich gelagerten al-Rai durch die Freie Syrische Armee (FSA) bildet das vor dem Krieg rund 25.000 Seelen zählende Städtchen den letzten vom IS kontrollierten Grenzübergang zur Türkei. Bis vor kurzem florierte hier der Handel mit Waffen und Raffinerieerzeugnissen, mit geplünderten Kulturgütern und dem Transfer von Dschihadisten. 

Für den Islamischen Staat stellt Dscharabulus eine der wichtigsten Nachschubrouten des Kalifats dar. Für die Türkei hingegen das Einfallstor für Terroristen. Wie bedeutend Dscharabulus auch für die innere Sicherheit in der Türkei tatsächlich ist, bewies zuletzt der blutige Anschlag von Gaziantep.

Als „Wölflinge des Kalifats“ bezeichnet der Islamische Staat seine Kindersoldaten. An gesonderten Schulen unterrichtet, gelten sie als hochgradig indoktriniert sowie bedingungslos opferbereit. Am vergangenen Wochenende sprengte sich einer von ihnen im Zentrum Gazianteps inmitten einer kurdischen Hochzeitsgesellschaft in die Luft und riß einundfünfzig Menschen mit sich in den Tod. Beinahe die Hälfte der Opfer waren selbst erst Kinder. 

Das grausame Attentat war nicht das erste dieser Woche: Nur zwei Tage zuvor starben bei einer Serie von der kommunistischen PKK angelasteten Bombenzündungen im Osten des Landes vierzehn Soldaten der türkischen Armee. Mit Gaziantep war jener Moment erreicht, an welchem Ankara der Geduldsfaden mit seinen Nachbarn endgültig gerissen schien.

„Unsere Grenze muß vom Islamischen Staat gesäubert werden“, forderte der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu diesen Montag auf einer eiligst einberufenen Pressekonferenz. „Und was immer auch dazu benötigt wird, werden wir zur Verfügung stellen. Der IS lyncht unsere Bürger. Für uns ist es selbstverständlich, uns gegen eine solche Organisation sowohl innerhalb als auch außerhalb der Türkei zur Wehr zu setzen.“

Daß Dscharabulus in den kommenden Tagen und Wochen fällt, scheint außer Frage zu stehen. Seit geraumer Zeit schon hatte sich das türkische Militär auf die Eroberung der Grenzgemeinde vorbereitet und Hunderte syrischer Aufständischer in Trainingscamps im türkischen Qarqamish, gleich auf der anderen Seite der Grenze zu Dscharabulus, versammelt. „Jeden Tag kommen Gruppen von Kämpfern aus Syrien über einen geheimen Grenzübergang zu dieser türkischen Basis, wo sie sich auf die Erstürmung von Dscharabulus vorbereiten“, berichtete einer der Aufständischen vergangenen Sonntag der Nachrichtenagentur Reuters. Noch am Wochenende begann das Bombardement der Dörfer rund um den Kalifatsvorposten durch türkische Artilleriebrigaden.

Dscharabulus ist ein Rennen gegen die Zeit: Mit jedem neuen Tag, den Ankara verstreichen läßt, drohen weitere Selbstmordattentäter des IS die Türkei zu infiltrieren. Und zum anderen Ufer des Euphrat, gleich östlich der Stadt, sind bereits erste Verbände der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) vorgestoßen; einer von Ankara mißtrauisch beäugten Dachorganisation mehrerer lokaler Sunnitenstämme in Gemeinschaft mit der kurdischen YPG. Letztere gilt für die Türkei als syrischer Ableger der Terrorgruppe PKK. Ihren Einmarsch in Dscharabulus und das damit erzielte Wachstum der kurdischen Einflußphäre im Norden Syriens möchte Ankara um jeden Preis verhindert wissen.

Die YPG wiederum wirft der Türkei seit Jahren bereits eine heimliche Unterstützung radikalislamischer Kräfte im syrischen Bürgerkrieg vor. Wogegen Ankara sich allerdings vehement verwahrt: „Wer immer uns verleumdet, die Türkei unterstützte oder unterstützt die Terroristenorganisation Daesh [den IS]“, twitterte der türkische Justizminister kurdischer Abstammung, Bekir Bozdag, am vergangenen Sonntag, „von dem solltet ihr wissen, daß er selbst Feind der Türkei ist.“

Ganz von der Hand zu weisen sind die Vorwürfe der YPG an die türkische Regierung trotz alledem nicht: Denn unter den in Qarqamish zur Erstürmung von Dscharabulus zusammengezogenen syrischen Rebellen befinden sich, so bestätigen auch Reuters-Journalisten vor Ort, zum Gros keine moderaten FSA-Milizionäre, sondern bevorzugt Kämpfer der Failaq al-Sham, welche der syrischen Moslembruderschaft zugerechnet werden, der türkisch-nationalistischen Sultan-Murad-Division sowie insbesondere der salafistischen Ahrar al-Sham. Letztere wiederum sieht sich als enger Verbündeter der Jabhat al-Nusra, dem syrischen Ableger der Terrororganisation al-Qaida.