© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Eine aus dem Herzen geschriebene Musik
Semperoper: Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in einer gelungen Neuinszenierung von Markus Bothe
Sebastian Hennig

Wenn das deutsche Feuilleton vermeldet, eine Operninszenierung brächte nichts Erstaunliches zustande, allein die Sänger und das Orchester wären recht gut, dann sollte der Musiktheaterfreund das als dringende Aufforderung dazu verstehen, um jeden Preis, nötigenfalls auf den Knieen rutschend, an den Ort des Geschehens zu gelangen. Denn die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß es sich um eine der hierzulande so seltenen Gelegenheiten einer werkgerechten Aufführung handelt.

Die Neuinszenierung von Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“ an der Dresdner Semperoper bestätigte diese freudige Erwartung nun vollständig. Dabei war dieser Umstand vielleicht gar nicht einmal das aktive Verdienst des Regisseurs Markus Bothe und seines Bühnenbildners Robert Schweer. Weniger ihre Erfindungsgabe als ihre Zurückhaltung kommt der Aufführung an jeder Stelle zugute. Dieser Dresdner „Eugen Onegin“ ist ein Wunder des Gewährenlassens.

Bevor Tschaikowsky die Arbeit aufnahm, weilte er als Berichterstatter zur Uraufführung des „Rings der Nibelungen“ in Bayreuth. Seinem Bruder schrieb er davon, es hätte wohl „noch nie eine so unendliche und so langweilige Faselei gegeben“. Unfreiwillig hebt er sich später selber auf die gleiche Stufe, als er von seinem berühmtesten Opernwerk schreibt: „Möge der ‘Onegin’ eine sehr langweilige Vorstellung mit einer aus dem Herzen geschriebenen Musik sein – das ist alles, was ich wünsche.“ Dieses Langweilige bei Tschaikowsky ist längst ebenso klassisch geworden wie Wagners Musik, und es rührt weltweit an die Herzen aller Opernfreunde. Als eine „Enzyklopädie des russischen Lebens und ein im höchsten Grade volkstümliches Werk“ kennzeichnete der zeitgenössische Literaturkritiker Belinski Alexander Puschkins „Eugen Onegin“. Aus dem, was der Dichter einen „Roman in Versen“ nannte schuf Tschaikowsky seine „Lyrischen Szenen“ in sieben Bildern, die er erst ganz am Schluß den gebräuchlichen drei Akten eines Opernwerkes zuordnete.

Es entsteht eine werkstolze Feierabendstimmung

In Dresden spielt die Tragödie von der rauhen Haltlosigkeit des russischen Kerls, der Schwärmerei des Mädchens und der Verantwortlichkeit der erwachsenen Frau in einem Saal, dessen Wandbespannung so zartblau ist wie die Fassade des Sankt Petersburger Winterpalais. Der Umbau zwischen den sieben Bildern wird der Automatik überlassen. Der Saal teilt sich dann in vier gleich große Abschnitte, die sich nach kurzer Fahrt jeweils zu einem neuen Raum verbinden.

Das bleibt kein technischer Vorgang. Denn die Musik begleitet die Wandlung und bettet sie selbstverständlich in die Handlung ein. Auf diese Weise wird der Chor in die Szene geschoben oder im ersten Bild, das auf dem Landgut der Larins spielt, ein ganzer Traktor ZT 300 aus dem Landmaschinenbau der DDR. Dessen im Sonnenlicht ausgebleichte himmelblaue Lackierung fügt sich bestens in den Farbklang des Saals ein. Dazu wirken die großen Rundballen mit dem goldglänzenden Stroh zugleich ländlich und festlich. So entsteht optisch jene werkstolze Feierabendstimmung, die dem Lied der Bauern nach dem Einbringen der Ernte entspricht.

Die Mitglieder des Sächsischen Staatsopernchors unter der Leitung von Jörn Hinnerk Andresen zeigen als Landarbeiter, Mädchen und Gesellschaftspublikum, wie bedeutungsvoll für den „Eugen Onegin“ der Chorgesang ist. Staatskapelle, Solisten und Chor tragen das Werk zu gleichen Teilen, und die Inszenierung fällt ihnen dabei nicht in den Rücken.

Unterschiedliche Beleuchtungen verschieben den Farbklang der blauen Wände vom Türkis bis ins Violett. Im zweiten Bild mit der Briefszene steht eine hohe Regalwand in der Bühnenmitte, in der Tatjana auch räumlich jene Zuflucht sucht, die ihr träumerisches Gemüt in den Büchern findet.

Tschaikowskys Sankt Petersburg liegt nicht nur landschaftlich nahe bei Finnland, auch in der Musik klingt zuweilen eine nordische Verwandtschaft an. In Dresden erfüllte sie sich der musikalischen Leitung des finnischen Dirigenten Pietari Inkinen und der hier seit je besonders geliebten und gefeierten Camilla Nylund als Tatjana. Gemeinsam mit dem Onegin Christoph Pohl, Anke Vondung als ihrer lebenslustigen Schwester Olga, Sabine Brohm als Mutter Larina sowie Tomislav Mužek als Lenski agiert eine geradezu traumhafte Besetzung.

Jede szenische Verwirrung wird hinwegmusiziert

Das Publikum wird in musikalische Dimensionen entrückt. Gedanken über die damit zusammenhängende Kunstfertigkeit kommen ihm nicht in den Sinn. So selbstverständlich und ergreifend wirkt die Darstellung in jedem Moment. Nicht zuletzt ist das so, weil die Sänger auch physisch eindrucksvoll präsent sind. Christoph Pohl gibt mit einer bestechenden Eleganz den zerrissenen Mann. Wenn die stattliche Camilla Nylund in ihrem blauen Rock barfuß auf dem Parkett des Saales steht, wird die verletzbare Herzensergießung ihres Briefs deutlich. Immer wieder gibt es Szenenbeifall, und zum Schlußapplaus erhebt sich das Publikum von seinen Sitzplätzen.

Regisseur Bothe kann sich allerdings der gegenwärtig angesagten Marotte der pantomimischen Vervielfachung nicht enthalten. In der Briefszene läßt er bei jedem neuen Ansatz zum schriftlichen Bekenntnis eine weitere stumme Tatjana-Darstellerin im hinteren Teil der Bühne Worte auf den Boden schreiben. Desgleichen muß nach der Duellszene der fassungslose Onegin mehreren vor ihm zusammensinkenden Lenskis begegnen.

Aber stets nehmen die Schattenbereiche der Bühne dergleichen neumodische Konventionen gütig in sich auf. Jeder Ansatz der Verwirrung wird rasch durch Orchester und Sänger hinwegmusiziert. Ob die Mädchen der Putzkolonne mit behandschuhten Händen durch die Buchseiten streichen oder der Duellplatz von herabrieselndem Schnee überdeckt wird, keiner dieser Einfälle ist so ironisch, daß er den Bann des Elegischen zu stören vermöchte. Im letzten Bild, während des verspäteten Werbens Onegins und der Entsagung Tatjanas, bleiben die Wände verschränkt in einen labyrinthischen Korridor.

Die Aufführung ist gekennzeichnet durch eine gleichbleibende Intensität. Die Höhepunkte des Geschehens liegen genau dort, wo sie ihr Autor bestimmt hat und nicht dort, wo das Vermögen der jeweiligen Sänger sie gerade einmal zuläßt. Zu einem solchen Höhepunkt wurde der Auftritt des ukrainischen Baß Alexander Tsymbalyuk als Tatjanas späterer Ehemann Fürst Gremin, der die Partie aber leider nur die ersten vier Aufführungen im Juli verkörperte. Auch ohne ihn wird diese nahezu tadellose Inszenierung dem Opernfreund Genuß bereiten.

Die nächsten Vorstellungen von „Eugen Onegin“ an der Semperoper Dresden, Theaterplatz 2, finden statt am 30. August, 1. und 4. September. Kartentelefon: 03 51 / 49 11 705

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