© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Vom Rechtsstaat zum Verhandlungsstaat
Ungleichheit vor dem Gesetz
Jost Bauch

Die Bundesrepublik Deutschland darf bis zum heutigen Zeitpunkt als Rechtsstaat gelten. Als ein Staat also, in dem das Recht herrscht. Ganz im Sinne von Immanuel Kant, der in Paragraph 45 seiner „Metaphysik der Sitten“ formulierte: „Ein Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“, dabei habe die Verfassung im Staate republikanisch zu sein, „eine Verfassung von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann.“ Die gesetzgebende Gewalt „kann nur dem vereinigten Wollen des Volkes zukommen“, wobei zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt zu unterscheiden ist. Die Übereinstimmung der republikanischen Verfassung mit den Rechtsprinzipien wird durch den kategorischen Imperativ als Vernunftbestimmung verbindlich gemacht.

Hegel knüpft an diese Kantsche Rechtsstaatsdefinition an, als er den Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ und als „die Wirklichkeit des substantiellen Willens“ in seiner Rechtsphilosophie bezeichnete. Der Staat ist nach Hegel die „Hieroglyphe der Vernunft“, weil der Staat als sittliche Idee und als Realisation des substantiellen Willens als gegenseitige Durchdringung des Substantiellen und des Besonderen anzusehen ist. Die Verbindlichkeiten des Bürgers gegen das Allgemeine und Substantielle sind zugleich essentielle Bestimmungen seiner Freiheit.

Bei der bürgerlichen Freiheit geht es um die Freiheit des einzelnen – der einzelne kann den Mitmenschen außer acht lassen. Bei der vernünftigen Freiheit des Staates kann die Freiheit nur in Verbindung mit anderen verwirklicht werden. Staat und Individuum sind als Kraftzentren eigenen Rechts miteinander verwoben, sie sind „dialektisch“ verschränkt: „Der einzelne Wille ist die Basis des Staates, doch muß er aufgehoben werden, muß gleichzeitig überwunden und bewahrt, das heißt, auf eine Stufe gehoben werden, auf der die Individuen das Gemeinwohl und nicht mehr nur ihr eigenes, partikulares Wohl wollen“, so Shlomo Avineri in „Hegels Theorie des modernen Staates“.

Mit dieser Staatsbestimmung weist Hegel alle totalitären Staatsvorstellungen in ihre Schranken, denn dort herrscht das vermeintlich Allgemeine, ohne die Subjektivität zu ihrem Recht kommen zu lassen. In der „Rechtsphilosophie“ schreibt er: „Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst zu erhalten“ (Paragraph 260). Mit anderen Worten: Die Vorherrschaft des Allgemeinen ohne Vermittlung durch das Konkrete, die Subjektivität, ist für Hegel Totalitarismus, und wie der Philosoph Rainer Schäfer richtig schreibt, wird damit die Idee des modernen Staates nach Hegel völlig verfehlt.

Hegel ist also, anders als ihn manche Interpreten sehen, die ihn schlicht nicht verstanden haben, kein Befürworter des totalen Staates. Er insistiert darauf, „daß das Interesse des Ganzen sich in die besonderen Zwecke realisiert“. Er beharrt auf der Trennung von Staat und Gesellschaft. Der Staat ist nicht mit der Gesellschaft identisch. Er hat festumrissene Aufgaben, die ihn wieder an die Interessen der Bürger zurückbinden: das Recht auf Selbsterhaltung nach außen und die Befriedung nach innen, indem er die Möglichkeit des Wohls eines jeden Bürgers sichert und zwar so – ganz kantianisch –, daß die Freiheit des einen nicht die Freiheit des anderen beschädigen kann.

Aber es gilt auch das Gegenteil: Der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee ist mehr als die Addition der Individualwillen. Denn mit einer solchen Vorstellung kommt man nur zum Not- und Verstandesstaat, die grundlegende Idee des Vernunftstaates wird indes verfehlt. Der Staat wird dann von den Partikularwillen und der Willkür der einzelnen abhängig, er wird zur Beute der besonderen Interessen.

So wendet sich Hegel gegen die Vertragstheorie und den Kontraktualismus (etwa bei Hobbes, Locke und Rousseau). Die Vertragstheorie ist für Hegel schon deshalb falsch, weil der Mensch als „zoon politikon“, als politisches Wesen, schon von Geburt an ein Bürger ist. „Die vernünftige Bestimmung des Menschen ist, in Staaten zu leben.“ An der Vertragstheorie sei gefährlich, daß der Bürger ja jeden Vertrag von seiner Seite aus kündigen könne.

Der Staat darf nicht zur Beute der Gesellschaft werden, er muß für den auf das Ganze gerichteten Willen stehen. Diese Staatsauffassung, von Kant in die Wege geleitet, von Hegel vollendet, stellt den Höhepunkt in der Ideengeschichte des Staates dar. 

Nach Hegel macht sich der Staat aber damit in einer Weise von den Bürgern abhängig, daß er seine Funktion, aus den vielen Individualwillen einen Allgemeinwillen zu schaffen (eine „volonté générale“ bei Rousseau), nicht erfüllen kann. So gilt, daß das Allgemeine nicht ohne das besondere Interesse realisiert werden kann und vice versa, daß die Individuen nicht bloß als Privatpersonen leben können. Sie müssen das Allgemeine, das gemeine Wohl wollen und zu ihrem eigenen Zweck machen. Sie müssen dies tun, nicht weil sie sich persönliche Vorteile erhoffen, sie müssen es vielmehr aus Pflicht tun, weil sie vor aller persönlichen Vorteilnahme am Wohl des Gemeinwesens als Selbstzweck interessiert sind.

Wie der Staat die Subjektivität der Bürger achten muß, so müssen die Bürger die Selbstzweckhaftigkeit des Staates achten, der, gerade weil er sich den subjektiven Zwecken enthebt, diesen erst langfristig eine Realisationschance bietet. Der Staat, so Hegels Ermahnung, darf nicht zur Beute der Gesellschaft (und ihrer Interessengruppen) werden, er muß für den auf das Ganze gerichteten substantiellen Willen stehen. Diese Staatsauffassung, von Kant in die Wege geleitet, von Hegel vollendet, stellt den Höhepunkt in der Ideengeschichte des Staates dar. Nirgendwo sonst in der Weltgeschichte des Geistes ist die Idee des Staates prägnanter formuliert worden.

Doch von diesem Höhepunkt der Staatsauffassung ist heute nicht mehr viel übriggeblieben. Realgeschichtlich begann die Geschichte des Staates damit, daß er die Selbstverteidigungsrechte der einzelnen gesellschaftlichen Gruppieren (erst Clans, dann Raubritter, später Fürsten) brach. Die Gesellschaft mußte domestiziert und pazifiziert, das Gewaltmonopol auf den Staat übertragen werden. Harald Seubert schreibt in diesem Zusammenhang zutreffend: „Die zentrale Rolle des Staates, die sich aus seiner Entstehung aus den Verwerfungen der konfessionellen Kriege erklärt, besteht darin, daß er klassisch als Schiedsrichter zwischen divergierenden Mächten und Interessen fungiert. Diese Fähigkeit verliert er, wenn er selbst nur noch Teil des Interessenballetts ist, und das wird er, wenn er sich schwächt.“

Diese Schwächung zeigt sich auf mehreren Feldern: Er nimmt zunehmend seine Kernfunktion als Gebietskörperschaft – also den Schutz eines bestimmen Staatsgebietes – nicht mehr wahr. Er ist zusehends nicht willens und auch nicht in der Lage, sein Gewaltmonopol nach innen umzusetzen.

Das zeigt sich besonders aber auch darin, daß er zum gesellschaftlichen Optionsobjekt ohne jedes Eigenrecht degradiert wurde. Deutlich wird dies unter anderem in den Ausführungen der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoguz. In einem offiziellen Strategiepapier der Bundesregierung für eine „integrative Flüchtlingspolitik“ schreibt die Staatsministerin und stellvertretende SPD-Vorsitzende im September vergangenen Jahres: „Wir stehen vor einem fundamentalen Wandel. Unsere Gesellschaft wird weiter vielfältiger werden, das wird auch anstrengend, mitunter schmerzhaft sein. Unser Zusammenleben muß täglich neu ausgehandelt werden. (...) Eine Einwanderungsgesellschaft zu sein heißt, daß sich nicht nur die Menschen, die zu uns kommen, integrieren muß. Alle müssen sich darauf einlassen und die Veränderungen annehmen.“

Zwei Dinge sind an ihren Ausführungen bemerkenswert: Zum einen die Deutlichkeit, mit der sie ausführt, daß bitte schön der alteingesessene Bürger sich anzupassen habe und daß die gesellschaftliche und politische Ordnung in diesem Land „täglich“ neu ausgehandelt werden solle. Wahrscheinlich hat sie dieses „Aushandeln“ in einem soziologischen Seminar über Anselm Strauss aufgeschnappt, der aber seine „negotiated order“ nur für soziale Organisationen (wie etwa Krankenhäuser), nicht aber für die Gesellschaft insgesamt angewandt sehen wollte. Zur Beschreibung makrosozialer und gesamtgesellschaftlicher Prozesse ist die Vorstellung von Aushandlungsprozessen überhaupt völlig ungeeignet, weil man schließlich nur mit ganz wenigen Menschen, mit denen man interagiert, Aushandlungs- und Verhandlungsprozesse führen kann. Jedenfalls kann es nicht sein, daß jeder Staatsbürger mit jedem Staatsbürger über die politische Ordnung verhandelt.

Mit dem Aushandeln der gesellschaftlichen Ordnung wird gerade der große Zivilisationsfortschritt der Genese einer rechtsstaatlichen Ordnung, die darin besteht, daß der Staat sich aus dem „Interessenballett“ heraushält, wieder rückgängig gemacht. 

Der Historiker und Philosoph Klaus Rüdiger Mai stellt in diesem Zusammenhang fest: „Die Vorstellung vom ständigen Aushandeln des Zusammenlebens klingt hübsch, zielt aber auf die Abschaffung des Rechtsstaates. Denn das Zusammenleben muß nur dann täglich neu ausgehandelt werden, wenn wir uns von Recht und Gesetz verabschiedet haben. Recht und Gesetz schaffen sowohl den Rahmen als auch die Spielregeln des Zusammenlebens. Darin besteht der Sinn des Rechtsstaates, daß eben das Zusammenleben nicht ständig ausgehandelt werden muß.“

Mit diesen Ausführungen hat Mai völlig recht. Die gesellschaftliche Ordnung über „tägliche Aushandlungsprozesse“ herstellen zu wollen, heißt tatsächlich, die Gesellschaft zu entstaatlichen. Grundgesetz und Rechtsstaat geben noch in diesem Land den Rahmen für die Verhaltensweisen der Menschen vor. Mit dem Aushandeln der gesellschaftlichen Ordnung wird gerade der große Zivilisationsfortschritt der Genese einer rechtsstaatlichen Ordnung, die darin besteht, daß der Staat sich aus dem „Interessenballett“ verabschiedet, um eine Schiedsrichterfunktion einzunehmen, wieder rückgängig gemacht. Mai ist zuzustimmen, wenn er betont, daß da, wo das Zusammenleben ständig ausgehandelt werden muß, das Recht des Stärkeren oder das Recht der stärkeren Gruppe herrscht.

Der an der Universität St. Gallen lehrende deutsche Historiker Rolf Peter Sieferle spricht so auch davon, daß wir wieder auf dem Weg in eine „multitribale Gesellschaft“ sind, in der (ethnische) Stämme und Cliquen in dem Maße, wie der Staat auf sein Gewaltmonopol verzichtet, ganze Straßenzüge und Stadtviertel beherrschen. Die Clans sichern ihre Einflußbereiche entweder durch Gewalt oder durch Verhandlungen mit den Nachbarclans. Das Politikverständnis der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung scheint sich aus solchen archaischen Gesellschaftsauffassungen zu speisen.

Die Gesellschaft zerfällt in kulturell homogene Gruppen. Gruppenidentitäten und Gruppenloyalitäten haben Vorrang vor jeder weiteren gesellschaftsbreiten Identität. Es entsteht notwendigerweise ein Rechtspluralismus: Das Recht der einen Gruppe muß nicht mit dem Recht der anderen identisch sein. Jede Gruppe hat Sonderrechte; ein allgemeines Rechtsgefüge wird außer Kraft gesetzt. Die Substanz des Staates im Hegelschen Sinne wird verfehlt, weil keine Gruppe mehr das Allgemeine im Auge hat. Der für alle geltende Rechtsstaat wird durch kulturell diversifiziertes Recht ersetzt. Thierry Baudet (Universität Tilburg) formuliert es so: „Die Anzahl von Komplikationen, zu denen Multikulturalismus in dieser Form führen kann, ist grenzenlos. Jetzt, wo die Legislative auf eine wirksame Weise zur Seite geschoben wurde, wird deutlich, daß der Weg des Rechtspluralismus in Chaos mündet, wenn eine Berufung auf kulturelle Traditionen ungehindert triumphieren kann“ („Der Angriff auf den Nationalstaat“).

Die Soziologen Anton Sterbling (Görlitz) und Gerd Vonderach (Oldenburg) kommen diesbezüglich zu dem Schluß, daß es durch die Zuwanderung von vorwiegend relativ armen Migrantengruppen mit traditionellen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen zu einer „Unterschichtung“ und partiellen „Retraditionalisierung“ unserer Gesellschaft kommt. Die Abschaffung des Rechtsstaates und die Retribalisierung der Gesellschaft scheinen zu dieser neuen „Retraditionalisierung“ zu gehören.

Nach Hegel ist Geschichte auch Fortschritt des Geistes im Bewußtsein der Freiheit. Diesen aufklärerischen Impetus hat er nie aufgegeben. Doch die neuere Entwicklung läßt daran Zweifel aufkommen. Wenn der Rechtsstaat durch Ver- und Aushandlungsprozesse ersetzt werden soll, dann ist die Unfreiheit auf dem Vormarsch. Dies ist möglich, weil die Politik sich am „falschen Allgemeinen“ orientiert: eben nicht am eigenen Volk, an den Interessen der eingesessenen Staatsbürger, sondern an der „Weltbevölkerung“ – eine abstrakte Größe, die außer moralisch aufgeladener „Stimmungsdemokratie“ (Karl Mannheim, 1893–1947) keinerlei substantiellen Willen im Hegelschen Sinne bestimmt.

Je mehr sich die Politik diesbezüglich moralisch auflädt, desto mehr verfehlt sie die Idee des Staates als Wirklichkeit der sittlichen Idee. Die herrschenden Kreise mögen im Umgang mit der Macht geschickt sein, im Angesicht der politischen Ideengeschichte des Staates erweisen sie sich mit ihren lächerlichen Parolen von der „Willkommenskultur“ und dem „Aushandeln“ von gesellschaftlichen Ordnungen als ungebildete Dilettanten. Leider mit praktischen Auswirkungen.






Prof Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrte Medizinsoziologie an der Universität Konstanz. Er ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Transformation gewachsener Nationalstaaten hin zu bloßen Siedlungsräumen („Unser Land entgleitet uns“,               JF 15/16).

Foto: Schiedsrichterpfeife: Statt neutral und unbestechlich das Gemeinwohl zu wahren, ist unser Staat dabei, sich zur Beute von Interessengruppen zu machen