© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/16 / 26. August 2016

Militärischer Satellitenstaat
Das deutsch verwaltete „Land Ober Ost“ bestand über zwei Jahre in Osteuropa
Jürgen W. Schmidt

Am 8. September 1916 schrieb der Geheimdienstrittmeister Fritz H. Schnitzer von der deutschen Obersten Heeresleitiung (OHL) über den Abend zuvor in sein geheimes Tagebuch: „Am Abend zuvor muß ich noch eines Momentes gedenken, den ich nicht vergessen werde: Hindenburg und Ludendorff kommen im Großen Hauptquartier an, vom Kronprinzen empfangen und fahren unter lautem Jubel der Soldaten zum Generalstab. Es war erhebend, zu sehen, welches Vertrauen die beiden genießen.“ Nunmehr sollten die Dioskuren Hindenburg und Ludendorff im Westen ihre von der Ostfront her gewohnte Erfolgsserie fortsetzen und den militärischen Sieg im Weltkrieg für Deutschland einfahren. 

An der Ostfront sah es Anfang September 1916 wahrlich nicht schlecht für Deutschland aus. Seit der Schlacht von Tannenberg 1914 über den Frontdurchbruch bei Gorlice und Tarnow 1915 bis hin zur geglückten Abwehr der letzten großen russischen Offensive gegen Österreich 1916 in Galizien (Brussilow-Offensive) hatte Rußland schwerste militärische Niederlagen hinnehmen müssen. Über eine Million russischer Soldaten befanden sich in Gefangenenlagern und große Festungen wie Warschau, Nowo-Georgiewsk und Kowno waren in deutscher Hand. 

Ganz Russisch-Polen und Litauen, dazu große Teile von Kurland, von Weißrußland, Galizien und der Bukowina waren von Deutschen und Österreichern besetzt. Das russische Transportwesen und die Industrie waren total zerrüttet, der Zarismus begann politisch zu taumeln und einiges deutete auf einen neuen revolutionären Aufschwung in Rußland hin, der im Erfolgsfalle die Entente ihres wichtigen östlichen Bündnispartners zu berauben versprach. Doch nicht nur militärisch stand das Deutsche Reich 1916 ganz gut im Osten da. 

Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, aber ebenso von der deutschen Bevölkerung, hatte sich hier auf maßgebliche Anregung und unter besonderer Förderung durch Erich Ludendorff ein deutscher Satellitenstaat mit der Bezeichnung „Ober Ost“ entwickelt. Von der Presseabteilung „Ober Ost“ herausgegeben, würdigte 1917 eine umfängliche Buchveröffentlichung die bislang getane Arbeit. Das Buch trug den bezeichnenden Titel „Das Land Ober Ost. Deutsche Arbeit in den Verwaltungsgebieten Kurland, Litauen und Bialystok-Grodno“ und war reichhaltig mit Fotografien, Statistiken und Dokumenten versehen. Es sollte über die ab 1915 getätigten deutschen Anstrengungen aus amtlicher Sicht informieren und offensichtlich die Annexion gewisser ex-russischer „Grenzstreifen“ an den deutschen Ostgrenzen sowie die künftige Errichtung deutscher Satellitenstaaten auf ex-russischem Territorium vorbereiten und propagieren. 

Die präsentierten deutschen Aktivitäten waren tatsächlich recht beeindruckend, was man gerade heute im Vergleich mit der im Nahen und Mittleren Osten gescheiterten Politik des „State-Buildung“ seitens der Amerikaner nicht unerwähnt lassen darf. Nicht umsonst bauten auf den ab 1915 geschaffenen wirtschaftlichen, verwaltungsorganisatorischen und verkehrstechnischen Grundlagen ab dem Jahr 1918 die neuen osteuropäischen Nationalstaaten wie Polen, Litauen und Lettland auf, ohne indes diese deutschen Aktivitäten sonderlich herauszustellen, geschweige denn zu würdigen oder gar zu schätzen. 

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß Ludendorff einer Familie von Landwirten und Gutspächtern entstammte, also durchaus Verständnis für wirtschaftliche, insbesondere aber landwirtschaftliche Belange besaß. Zudem war Ludendorff, ebenso wie Hindenburg, in der preußischen Provinz Posen zur Welt gekommen, wo die Deutschen nur 40 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Ohne Zweifel haben diese Umstände Ludendorffs Bewußtsein für die Probleme Ostmitteleuropas geschärft. 

Umfassende Verwaltung bis hin zur Kulturpolitik

Das Heer mußte sich dem Aufbau einer deutschen Militärverwaltung für die besetzten russischen Gebiete widmen. Der sich schon bei der Planung der erfolgreichen Schlachten 1914 als äußerst fähiger Generalstabschef beweisende Oberst Max Hoffmann sollte auch hierbei eine prägende Rolle spielen. Seine Aufgabe umfaßte nun nicht allein nur die Organisation der notwendigen landwirtschaftlichen Arbeiten, um die Existenz der lokalen Bevölkerung und der deutschen Truppen vor Ort abzusichern. Ebenso ging es um die Wiederherstellung von Straßen, Eisenbahnen und Brücken, die Organisation eines funktionierenden Gesundheits- und Postwesens und um den Aufbau einer funktionierenden Rechtspflege. Wie in allen preußischen Landkreisen durch die preußische Landgendarmerie üblich, so war auch im Land „Ober Ost“ die vor Ort befindliche Feldgendarmerie schlichtweg ein militärisches „Mädchen für alles“, was zur Landesverwaltung notwendig wurde. 

Erstaunlich ist dabei, daß gerade die Juden im „Land Ober Ost“ mit der deutschen Militärverwaltung recht gut zurechtkamen und diese sogar schätzten, denn sie wurden lange nicht so stark politisch und ethnisch diskriminiert wie zu Zeiten des Zarenreichs. Selbst kulturelle Aktivitäten und Leistungen schob man deutscherseits ab 1915 an, die den späteren osteuropäischen Staaten durchaus nützlich waren, sei es die Sicherung der örtlichen Archive und Kunstdenkmäler oder die Neuorganisation des örtlichen Grundschul- und Hochschulwesens nach deutschem Muster. 

Das „Land Ober Ost“ umfaßte mit Stand von Anfang 1917 immerhin 108.808 Quadratkilometer und entsprach damit fast genau der Flächengröße der späteren DDR. Allerdings kamen bei nur drei Millionen Einwohnern in den meist dünn besiedelten Gebieten nur durchschnittlich 27 Einwohner auf den Quadratkilometer. Die „Ober Ost“ unterstehenden drei regionalen Militärverwaltungen von „Kurland“ (10 Verwaltungskreise), „Litauen“ (33 Verwaltungskreise) und „Bialystok-Grodno“ (14 Verwaltungskreise) waren dabei nach preußischem Verwaltungsvorbild gegliedert, und in der Regel wurden sie von Reserveoffizieren, welche im Zivilberuf Verwaltungsbeamte waren, verwaltet. 

Zu einer funktionierenden Landesverwaltung gehört auch eine funktionierende Steuerverwaltung und es gelang den Verwaltungsbehörden, die Landesverwaltung nicht nur kostenneutral zu gestalten, sondern sogar Steuerüberschüsse zu erzielen. Doch blieben dem „Land Ober Ost“ die Absurditäten deutscher Finanzgesetzgesetzgebung nicht völlig erspart. Natürlich umgab „Ober Ost“ auch eine „Zollgrenze“ nach deutschem Recht, was dazu führte, daß deutsche Warenlieferungen dorthin gleich zweimal verzollt werden mußten, einmal beim Betreten des „Generalgouvernements Warschau“ und anschließend an dessen Zollgrenze zu „Ober Ost“. 

Wenig bekannt ist ebenso, daß sich die Presselandschaft der künftigen osteuropäischen Staaten erst ab 1915 allmählich unter deutschem Einfluß herauszubilden begann. Sofort nach Inbesitznahme des Landes begannen nämlich Zeitungen in deutscher Sprache (Grodnoer Zeitung, Suwalkier Nachrichten), ebenso litauische (Dabartis) oder lettische Blätter (Disimtenes Sinas), und sogar jiddische Zeitungen (Letzte Nai’ s) zu erscheinen. Der erwähnte Rittmeister Schnitzer, der Presse- und Propagandafachmann des deutschen militärischen Geheimdienstes IIIb, war schließlich ab 1917 an der Schaffung erster Zeitungen in estnischer Sprache maßgeblich beteiligt. Mit der deutschen Kriegsniederlage von 1918 wurde die Aufbauarbeit von „Ober Ost“ indessen schnell vergessen, und alle von Ludendorff an diese Aufbauarbeit in Osteuropa geknüpften Hoffnungen zerrannen in ein Nichts. 

In den neu entstandenen Nationalstaaten wird bis heute der kriegsbedingte deutsche Einfluß auf die Schaffung von tragfähigen wirtschaftlichen und verwaltungsorganisatorischen Grundlagen bei ihrer Entstehung nach 1918 aus dem Bewußtsein verdrängt.