© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Fakten kann man ja googeln
Geschichte: In Sachsen-Anhalt verschwinden Jahreszahlen aus dem Unterricht
Michael Paulwitz

Nach Berlin und Brandenburg hat jetzt Sachsen-Anhalt einen Rahmenlehrplan verabschiedet, der im Fach Geschichte die chronologische Erzählung abschafft und auf thematische Längs- und Querschnitte setzt. Bildungsideologen sind begeistert, Praktiker und Fachdidaktiker sorgen sich um das kritische Urteilsvermögen von Schülern, denen ein einordnender Faktenrahmen vorenthalten wird.

Das Mode- und Zauberwort „Kompetenz“ gibt auch in Sachsen-Anhalt den Takt vor: Die Schüler sollen „narrative Kompetenz“ sowie „Interpretations- und geschichtskulturelle Kompetenz“ erlernen, soll heißen: Geschichte „selbst erzählen“ und die Zeit- und Ideologieabhängigkeit ihrer Deutung verstehen. Jahreszahlen sollen sie dazu allerdings ebensowenig brauchen wie einen vollständigen Überblick über die deutsche und europäische Geschichte: Ganze Epochen fallen bei der Reform durch den Rost.

Wie die Schüler freilich innerhalb „thematischer Blöcke“ große, auch epochenübergreifende Linien ziehen und „eigenständig prüfen, bewerten und untersuchen“ sollen, ohne vorher das nötige und zwangsläufig auch chronologische Faktengerüst vermittelt bekommen zu haben, bleibt das Geheimnis der ehrgeizigen Neuerer. Heinz-Peter Meidinger, Vorsitzender des deutschen Philologenverbandes, hat gravierende Zweifel: „In den Köpfen der Schüler, die nicht per se geschichtsinteressiert sind, purzeln Epochen und Akteure immer mehr durcheinander“, gibt er zu bedenken. 

In Bayern ist die nationalsozialistische Außenpolitik der „Entrümpelung“ der Lehrpläne zugunsten der Kompetenz-orientierung zum Opfer gefallen, im benachbarten Baden-Württemberg kommt die Französische Revolution nicht mehr vor. Und in Sachsen-Anhalt hat man statt dieses Urereignisses, das am Anfang der Epoche von Nationalismus und Totalitarismus stand, die Amerikanische Unabhängigkeit gestrichen.

In Berlin hatte die Vorstellung des neuen gemeinsamen Rahmenlehrplans für die Hauptstadt und Brandenburg im Sommer letzten Jahres einen Beinahe-Aufstand von Eltern, Lehrern und Teilen der CDU ausgelöst. Für das Fach Geschichte hatte der Rahmenlehrplan chronologischen Unterricht nur noch in der Unterstufe vorgesehen, ab Klasse 7 sollte ganz darauf verzichtet werden. Der Lehrplan wurde überarbeitet, die Einführung auf 2017 verschoben. 

Krieg und Krisen              werden ausgeblendet

Als Zugeständnis an die Kritiker wurden wieder chronologische Blöcke eingebaut, allerdings erst für die Zeit ab 1789. Heinz-Peter Meidinger hält es für ein Armutszeugnis, wenn Schüler möglicherweise niemals von der Antike oder der Renaissance hören: „Wessen Geschichtswissen erst mit der Französischen Revolution einsetzt, der weiß nichts über seine kulturellen Wurzeln und wird deshalb auch die Zukunft nicht sinnvoll gestalten können.“

„Lehrer des Jahres“ Robert Rauh, einer der Wortführer der Kritiker und Initiator einer Petition, kämpft noch um Kompromisse: Wenigstens im ersten Halbjahr eines Schuljahres solle chronologisch vorgegangen werden, um im zweiten dann „Fallanalysen“ und „Längsschnitte“ vorzunehmen. Sein Protest hatte sich insbesondere dagegen gerichtet, in der Unterstufe die Geschichte in ein neues Fach „Gesellschaftswissenschaften“ einzuschmelzen, in dem sie „kaum noch sichtbar“ würde.

In Nordrhein-Westfalen wurde dieser Trend noch radikaler umgesetzt; dort ist der Geschichtsunterricht ganz im Neufach „Gesellschaftslehre“ aufgegangen. Anderswo fusioniert man das Fach mit Erdkunde, Soziologie oder Wirtschaft. Auch bei der Stundenzuteilung wird das Fach gern stiefmütterlich behandelt. Wirtschaftsnaher Utilitarismus, der den Schulunterricht vor allem unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung und Verwertbarkeit für die spätere Berufsausbildung betrachtet und die dafür weniger „nützlichen“ Fächer herabzustufen und auszusortieren trachtet, trifft sich dabei mit altlinken Vorbehalten gegen Geschichte als Erzählung der „Mächtigen“. 

Thomas Sandkühler, Geschichtsdidaktiker an der Humboldt-Universität Berlin, beobachtete schon vor längerem die Tendenz, Kriege und weltpolitische Krisen aus dem Unterricht auszublenden. Im neuen Lehrplan für Sachsen-Anhalt will man Wendezeit und Wiedervereinigung nur noch aus der „alltagsgeschichtlichen“ Sicht von „Zeitzeugen“ aus dem eigenen Umfeld betrachten – jener also, die Geschichte subjektiv erlebt haben; die Motive der Gestalter und Entscheider bleiben außen vor.

Das Mißtrauen gegenüber der Geschichte als Disziplin, die durch kritischen Umgang mit Fakten und Quellen das Urteilsvermögen stärkt, statt die zu den jeweiligen Theorien passenden Fakten einfach „zusammenzugoogeln“, ist dabei nur eine Neuauflage altlinker Bildungsideologie. Schon bei den hessischen Gesamtschulexperimenten der siebziger Jahre war die Ersetzung der Geschichte durch „Gesellschaftswissenschaften“ fester Bestandteil des postulierten Abbaus von „Ungleichheiten“. Das Durcheinander in den Köpfen erleichtert die Indoktrination. Didaktiker Sandkühler warnt: „Bei dieser Methode werden abstrakte Begriffe oft zu schnell und zu definitiv verabreicht.“


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