© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Dieser Weg wird kein leichter sein
Treffen mit östlichen EU-Partnern: Angela Merkel bekam die Unzufriedenheit mit der deutschen „Willkommenskultur“ deutlich zu spüren
Paul Leonhard

Pfiffe, versteinerte Gesichter, Unverständnis – ihre Osteuropareise dürfte  für Bundeskanzlerin Angela Merkel alles andere als angenehm gewesen sein. Egal ob in Estland, Polen oder Tschechien: Den Menschen dort sind die wiedergewonnene Eigenstaatlichkeit und nationale Souveränität ebensoviel wert wie die Zugehörigkeit zur EU. Sie sind schon deswegen überzeugte Europäer, weil ihre Länder so lange von Westeuropa ihrem aus dem Zweiten Weltkrieg resultierenden Schicksal überlassen worden waren. Zum Selbstverständnis der Ost- und Ostmitteleuropäer gehört eben auch, daß sie selbst bestimmen wollen, für wen sie, wenn überhaupt, ihr Land öffnen. 

Das haben die Regierungschefs der sogenannten Visegrád-Staaten, also Slowakei, Polen, Tschechien und Ungarn, einer der stärksten regionalen Gruppierungen innerhalb der Europäischen Union, Merkel bei ihrem Treffen noch einmal deutlich gemacht.

„Tschechien kann keinem System zustimmen, das auf verpflichtenden Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen beruht“, sagte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka nach dem Treffen mit Merkel. Der Sozialdemokrat lehnt auch Strafzahlungen für Mitgliedsstaaten ab, die sich den Quoten widersetzen. Die slowakische Regierung wiederum war ohnehin die erste, die gleich nach den Brüsseler Beschlüssen eine Klage gegen die Quotenregelung ankündigte. An „unserem Widerstand gegen die Quote“ habe sich nichts geändert, betonte Robert Fico, Regierungschef der Slowakei – des Landes, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft der EU innehat.

Als „sinnlos“ bezeichnete Tschechiens Präsident Miloš Zeman Merkels „Willkommenskultur“. Europa sei „einer organisierten Invasion“ ausgesetzt. Deswegen müßten Flüchtlinge, deren Asylantrag in Europa abgewiesen wurde, umgehend ausgewiesen werden. Im Fall einer großen Migrationswelle hält Zeman einen aktiven Schutz der Grenzen seines Landes auch durch einen Schutzzaun für erforderlich. Anfang des Monats hatte das tschechische Staatsoberhaupt das Parlament aufgerufen, EU-Quoten zu ignorieren und keine Flüchtlinge aufzunehmen und sich damit prompt offizielle Kritik des deutschen EU-Kommissars  Günther Oettinger, eingehandelt. Der fordert, daß die Länder der EU ihre Asylgesetzgebung harmonisieren und die Sozialleistungen für Flüchtlinge angleichen sollten. 

Aufforderung, Europa        zu reformieren

In Reval, Warschau und Prag verweist man hingegen auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Armen in den eigenen Ländern. Wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen gehe, könnten sich „nicht alle in Europa so eine Politik, wie Deutschland sie vorschlägt, leisten“, sagte der polnische Außenminister Witold Waszczykowski.

Verständnis für das Unbehagen seiner Landsleute gegenüber Merkels „Willkommenskultur“ hat der Politologe Vladimír Handl von der Prager Karlsuniversität. Es gebe keine Erfahrungen mit Multikulturalismus und Multiethnizität, sagte Handl im Gespräch mit Radio Prag. Er erinnerte daran, daß Staatsbürger mit Migrationshintergrund lediglich etwa vier Prozent der gesamten tschechischen Bevölkerung ausmachen, in Deutschland seien es dagegen knapp unter 20 Prozent. Auch würden die Tschechen genau verfolgen, was die Medien über „die Nichterfolge von Integrationsbemühungen in den Vororten von Paris, Brüssel, London und jetzt auch mehrmals Berlin-Neukölln“ berichten. Ablehnend gegenüber der Zwangsaufnahme von Flüchtlingen zeigt man sich auch in Reval. Die Esten fürchten nicht nur ihren russischen Nachbarn, sondern verweisen stets auch auf dessen Einwanderungspolitik zu sowjetischen Zeiten, als die Esten eine Minderheit im eigenen Land zu werden drohten.

Die Debatte um die Flüchtlingsquoten trage „zu einer Vergiftung der Atmosphäre in Europa bei“, hatte der tschechische Außenminister Lubomír Zaorálek bereits Anfang Mai beim Treffen der Visegrád-Gruppe mit den Staaten der Östlichen Partnerschaft sowie Vertretern der EU gewarnt: „Wir müssen einen Weg finden, bei dem uns jeglicher Rückhalt in der Öffentlichkeit sicher ist und bei dem wir Einigkeit demonstrieren können.“

Auf der Suche nach dieser Einigkeit dürfte es Merkel bei ihrer Europatour und dem anschließenden Treffen mit weiteren acht EU-Partner im brandenburgischen Schloß Meseberg gegangen sein. Als Vertreterin des Landes, das den Aufschwung in Osteuropa – und nicht nur dort – finanziert, waren für die Kanzlerin die Zukunftspläne der dortigen Regierungschefs und die Reaktionen auf den Brexit wichtig. Das Votum in Großbritannien hätten die Visegrád-Staaten als Aufforderung begriffen, die EU zu reformieren und die Entscheidungen souveräner Staaten zu achten, sprach Polens Ministerpräsidentin Beata Szydlo Klartext. 

Für Merkel waren die Treffen aber auch ein wichtiger Stimmungstest vor dem für September im slowakischen Preßburg (Bratislava) angesetzten informellen Gipfeltreffen der 27 EU-Staaten ohne Großbritannien, Merkels Sprecher Steffen Seibert: „Europa besteht auch daraus, daß man Meinungsverschiedenheiten im Gespräch und in Verhandlungen zusammenführt.“