© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Pankraz,
J.-J. Rousseau und der Leihmütter-Boom

Das Geschäft mit den Leihmüttern, so kürzlich ein hoher Beamter der indischen Zentralregierung in Neu-Delhi, habe sich in den letzten Jahren zu einem blühenden Zweig der Volkswirtschaft seines Landes entwickelt. Er sagte allerdings nicht „Leihmütter“, sondern „Stellvertreter-Mütter“ beziehungsweise „Ersatzmütter“ („surrogate mothers“).

Nicht nur in Indien hat sich der Handel mit den Leihmüttern ja rasant entfaltet. Längst sind die damit verbundenen Vorgänge jeglicher Emotionalität entkleidet, kühlster Geschäftston waltet, Geldsummen werden genannt und gegeneinander abgewogen, findige Investoren überlegen, wie und wo in der neuen Branche sich am gewinnbringendsten eingreifen läßt. Man spricht von „Boom“, und ein rasches Ende dieses Booms ist nicht zu befürchten.

Bestellisten mit Büro-Adressen kursieren, aus denen sich Erfolgsfrauen des Westens, die sich ein Kind wünschen, es aber nicht austragen können oder wollen, ihre Leihmutter international aussuchen können. Ethische Einwände von Theologen oder Philosophen gegen das Treiben sind offenbar nicht mehr zu erwarten. Die letzten hat es hierzulande um die Jahrtausendwende 1999/2000 gegeben, als der ehrwürdige, damals schon hundertjährige Hans-Georg Gadamer in Heidelberg eine große, bewegende Klage über den globalen „Verlust der Mütterlichkeit“ anstimmte.


Verlust der Mütterlichkeit“, schrieb Gadamer, rühre an die Wurzeln nicht nur der westlichen Kultur, sondern an die Wurzeln menschlicher Kultur überhaupt. Ein Gemeinwesen ohne „wahre Mutterschaft“ sei gar kein wirkliches Gemeinwesen mehr, sondern nichts als ein Fremdkörper im Reigen des Lebens, ein Infektionsherd, von dem nur noch Tod und Verderben ausgingen. Starke Worte zweifellos, vor allem, wenn man an die mittlerweile bestehenden Möglichkeiten der biologischen Reproduktionstechnik denkt. 

Liegen in den Spezialkliniken nicht schon Modelle künstlicher Gebärmütter aus Gummi bereit, um maßgeschneiderte Klone aufzunehmen und problemlos zur Geburtsreife zu bringen? Und zeigen nicht auch die vielen menschlichen Leihmütter in der „Dritten Welt“, daß die Rede von der angeblich lebenslangen Verbundenheit, die sich während der natürlichen Schwangerschaft herstelle, ein Mythos ist? Wann hat denn je eine Leihmutter im nachhinein löwenhaft um das von ihr ausgetragene Kind gekämpft, statt sich mit dem vorher ausgemachten Honorar still und leise in die Büsche zu schlagen?

Richtet sich Mütterlichkeit wirklich exklusiv auf den eigenen Keimling? Ist sie nicht vielmehr ein zwar von Hormonen gesteuertes, aber grundsätzlich frei flottierendes Gefühl, das die Gesellschaft auch jenseits der Familien wie ein wärmender Wind durchzieht und dessen humanisierende Nützlichkeit sich gerade erst dann richtig entfaltet, wenn sich die Frauen vom Blick auf die eigene Brut freimachen? Erleben wir nicht – im Gegensatz zu den Behauptungen von Gadamer – im Zuge des Feminismus eine explosionsartige Ausweitung von Mütterlichkeit?

Für solches Argumentieren hätte der alte Gadamer freilich nur ein Achselzucken gehabt. Und tatsächlich ist ja von „neuer Mütterlichkeit“ in unserer Effizienzgesellschaft kaum etwas  zu spüren. Als mediales Vorbild dominiert heute eindeutig die Karrierefrau, die nicht im geringsten daran interessiert ist, sich als Mutter zu glorifizieren, höchstens noch als „alleinerziehende Mutter“, und die ansonsten voll in die „Männerwelt“ eingestiegen ist und nur noch alles besser als die Männer machen will.

Manchmal wird als Generalutopie sogar ein Amazonenstaat an die Wand gemalt, in dem (junge, hübsche) Männer nur noch als Lustobjekte zugelassen sind und die Amazonen voll deren übrige Funktionen übernommen haben, so daß für Mutterschaft gar keine Zeit mehr bleibt und spezifische Weiblichkeit allmählich verblaßt. Das ist genau das, was Hans-Georg Gadamer fürchtete: die Eliminierung der Weiblichkeit im Namen der Weiblichkeit, die totale Vermännlichung der Welt durch Abschaffung der Männer.


Und Pankraz räumt – ungern – ein: Gadamer hatte wahrscheinlich recht, wie so oft in seinem Leben. Wir mögen noch weit von dieser Horrorvision entfernt sein, aber der Weg dahin ist in der westlichen, europäisch-nordamerikanischen Welt bereits eingeschlagen, das läßt sich nicht leugnen. Andere Kulturen in östlichen Ländern registrieren das sehr genau, und es liefert ihnen den Vorwand, die sogenannte Emanzipation der Frau in ihren Ländern sehr zögerlich anzugehen, um es vorsichtig auszudrücken.

Trost spendet allenfalls die Beobachtung, daß sich just in diesen Ländern, zumindest in Indien und Indonesien, neuerdings einige ebenso gelehrte wie mutige Frauen zu Wort melden und allseitige Mäßigung anmahnen. Sie wollen keine Leihmütter sein, sondern richtige Mütter, die von den Männern als solche respektiert werden. Und sie berufen sich dabei interessanterweise (genau wie seinerzeit Gadamer) auf einen notorischen Vertreter der europäischen Aufklärung: auf keinen Geringeren als Jean-Jacques Rousseau.

Der hat in seinem berühmten Bildungsroman „Émile oder Über die Erziehung“ schon vor zweihundertfünfzig Jahren mit wahren Engelszungen vor dem „Verlust der Mütterlichkeit“ gewarnt. Zitat Rousseau: „Noch nicht zufrieden damit, daß sie ihre Kinder nicht mehr stillen, gehen die Frauen jetzt sogar so weit, gar keine Kinder mehr zu bekommen (…) Da sehen wir das Schicksal, das Europa bevorsteht. Die Wissenschaften, die Künste, die Philosophie, die Moral – sie werden absterben. Die Frauen, die keine Mütter mehr sein wollen, werden Eu-ropa in eine Wüste verwandeln.“

Rousseau, der große Aufklärer, hat seine eigenen fünf Kinder mit der Wäscherin Thérèse Levasseur „aus ökonomischen Gründen“ allesamt in einem Heim für Findelkinder abgegeben. Spricht das nun gegen ihn? Gegen die Aufklärung? Gegen die Eltern insgesamt? Auf jeden Fall spricht es nicht gegen die Mütter.