© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Das Politische hat kapituliert
Populismus: Parteien und Politiker glauben, das Volk vor sich selber schützen zu müssen
Eberhard Straub

Der wahre Staatsmann muß die im Volk verbreiteten Stimmungen aufgreifen und sie geschickt manipulieren, um sie als Antriebskraft für seine Regierung nutzen zu können. Gelingt ihm das, bestätigt er seine Fähigkeit, Probleme schöpferisch lösen zu können. Das meinte 1913 der junge Walter Lippmann, damals noch im Banne Theodore Roosevelts, den er als Präsident der Vereinigten Staaten von 1901 bis 1909 für einen Staatsmann in diesem Sinne hielt.

Der große Journalist resümierte knapp die Quintessenz jener Politik, die heute als  Populismus abwertend charakterisiert wird. Dabei gehört der Populismus ganz selbstverständlich zu allen Republiken, ob im klassischen Athen, im alten Rom oder im heutigen Europa. Parteien und Parteipolitiker müssen sich populär machen, um die Gunst der Wähler zu gewinnen. Sie müssen mit Wahlgeschenken locken. Jeder Gymnasiast war früher damit vertraut, wie Marius, Pompeius, Caesar oder Octavian als Volksfreunde erfolgreich mit Hoffnungen und Sorgen der Römer umzugehen wußten. Deshalb konnten den Lateinkundigen Adenauers Versuche, als Volkskanzler Stimmen zu gewinnen, indem er Stimmungen bediente, nicht sonderlich überraschen. Das klassische Gymnasium gewährte vorzüglichen politischen Unterricht. 

Wahlen gewinnt nur, wer in der Lage ist, ganz einfache Antworten auf gar nicht so einfache Fragen zu geben. Möglichst einfach denken ist eine gute Gabe Gottes. Das versicherte Konrad Adenauer, um deren Gunst werbend, Männern und Frauen, Jungen und Alten. Wer mit Grabesstimme und zerknittertem Gesicht von Problemen raunt, die äußerste, gemeinsame Anstrengungen verlangen, gibt zu erkennen, Herausforderungen überhaupt nicht gewachsen zu sein. Wer Erfolg haben will, muß Zuversicht verbreiten, vor allem wenn die Situation wieder einmal noch nie so ernst war, wie gerade jetzt. Keine Experimente! Auf den Kanzler kommt es an! Was will die Opposition eigentlich? Weiter so, Deutschland! Mehr Europa! Fördern statt Fordern oder Fördern und Fordern! Solch schlichte Formeln sollten und sollen weiterhin beruhigen und „die Menschen“ im Geltungsbereich des Grundgesetzes bei guter Laune halten.

 Das gelingt immer weniger. Das Vertrauen in die herkömmlichen Parteien schwindet in Deutschland wie überall in Europa. Die Enttäuschten lassen sich auf Experimente bei der Wahl ein, sofern sie überhaupt noch wählen. Sie versuchen es mit Protestparteien, wie bislang Privilegierte ihre neuen Konkurrenten in Europa abschätzig nennen. Doch jede Partei ist zuerst einmal Protestpartei, da Opposition und Kritik ihre Aufgabe ist. Damit fing überhaupt die Geschichte des Parlamentarismus an.

Die neuen Bewegungen – einige schon gar nicht mehr so neu wie der Front National, Cinque Stelle oder Podemos –, aber auch alte Parteien wie die FPÖ, leben vom Mißtrauen in die Parteien, denen immer mehr immer weniger zutrauen. Obschon auf dem Wege, selber zur Partei zu werden oder zu bleiben, wehren sie sich gegen die Herrschaft der Parteien. Sie machen diese verantwortlich für systematische Störungen und ihre Unfähigkeit, darauf  eine Antwort wissen.

Darin wittern die systemischen Repräsentanten der Parteiendemokratie wiederum einen populistischen Anschlag, weil Zweifel an ihrer Problemlösungskompetenz nur für Unordnung sorgen könne. Allerdings haben sie oft genug erst Probleme geschaffen, ohne Rat zu wissen, wie man mit ihnen fertig werden könne. „Wir schaffen das“ ist eine ebenso schlichte Zumutung wie der spanische Ausruf ungeduldiger Staatsbürger: weg mit euch allen!

Ratlos über die Rolle des Bürgers und des Volkes

Der Vorwurf des Populismus offenbart eine zunehmende Ratlosigkeit über die Rolle des Bürgers und des Volkes im herkömmlichen Verfassungs- und Rechtsstaat. Das souveräne Volk verschwindet hinter „den Menschen“, die den Bürger ersetzen. Aus dem Volk wird eine unbestimmte Bevölkerung, ein buntes Mosaik von Kunden, die berechtigt sind, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, welche vom Management des „Großunternehmes Staat“ bereitgestellt werden, also von Regierung und Parlament. Der Kunde ist zwar König, aber er soll nicht frech, nicht laut werden, soll funktionieren wie in jeder klimatisierten Einkaufszone, deren Rolltreppen oder Laufbänder jeden an das für ihn passende Ziel bringen. Es geht wie auf dem Markt gar nicht so sehr um Rechte, sondern um das Wohlfühlen und die Gewißheit, geachtet und beachtet werden. Der Staat als politische Rechtsgemeinschaft verschwindet in der Wertegemeinschaft fühlender Verbraucher. „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein.“

Die totale Wertegemeinschaft braucht wertebewußte Menschen und Mitmenschen, Verbraucher, die in jeder Beziehung Wertarbeit leisten, wenn sie sich verbrauchen lassen. Bürger oder Staatsbürger können unter solchen Voraussetzungen nur diskriminierend wirken, da sie Menschen in Deutschland oder Europa benachteiligen. Parteien, vor allem in Deutschland, wollen unbedingt Volksparteien sein, obwohl sie gar keinen populus mehr kennen, also den Verband berechtigter Bürger, die im alten Rom cives waren und sich von denen rechtlich unterschieden, die keine Staatsbürgerschaft besaßen. Das war schrecklich herzlos. Ein populus in römischer Tradition hat sich daher erledigt.

Eine wehrhafte Wertegemeinschaft, wie die Europäische Union,  hat ein Herz für alle und erwählte deswegen Schillers „Ode an die Freude“ mit den Tönen Beethovens zu ihrer Hymne. „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuß der ganzen Welt!“ Wer dieses transnationale europäische Lied in menschheitlicher Gesinnung im Geiste nicht mitsingt, macht sich verdächtig und gibt sich im Reich der globalen Aktionäre als Reaktionär zu erkennen, also als Deutscher, Franzose, Italiener,  Spanier, kurzum als etwas Besonders. Das widerspricht eklatant dem dauernden Karneval der Kulturen und der lebendigen Vielfalt, die alle bereichert und frei macht für das Wagnis Leben und das Abenteuer, das im Zusammenleben uns alle beglückt und emotional ganz einfach weiterbringt. Wer kein Herz hat, bestätigt von gestern und vorgestern zu sein. 

Die Parteien wehrhafter Demokraten haben längst eine ganz neue Aufgabe gefunden: das Volk vor sich selber zu schützen. Seit dem aufgeklärten Juristen und Politologen Charles de Montesquieu wissen alle Volksfreunde, daß das Volk sich gar nicht selber regieren kann. Es ist einfach zu ungebildet und dauernd Opfer seiner wirren Leidenschaften, so daß es Stellvertreter braucht, Repräsentanten, die dem Volk erklären, was es will oder wollen soll. Erstaunlicherweise hielten sie das dumme Volk aber für so klug, die richtigen Volksvertreter zu wählen.

Die Idee des liberalen, repräsentativen Parlamentarismus beruhte immer darauf, daß Bildungsbürger, weil sie die Nation und das Volk erfunden haben, berechtigt sind, für das Volk zu handeln. Dagegen gab es von vornherein entschiedene Proteste. Sie ermöglichten Parteien, weil sich mehrere Volksklassen von den Liberalen nicht repräsentiert fühlten. Die nationale Demokratie, die sich überall in Europa, am spätesten in Großbritannien 1921, durchgesetzt hatte, hing immer mit der nie gelösten Frage zusammen, wie „das Volk“ am besten repräsentiert werden kann. Liberale, Sozialisten, Kommunisten, manche Konservative, auf jeden Fall sämtliche Rechte nahmen an, daß es das Volk gibt und den wie auch immer verfaßten Volksstaat.

Die geschickteste Art der Repräsentation war seit 1789, seit der Französischen Revolution, heftig umstritten. Sie ist es weiterhin. Die Idee des repräsentativen Parlamentarismus verliert ihre Überzeugungskraft, je skeptischer Parteidemokraten über Volk oder die Bevölkerung denken, die völlig überfordert wären, die komplizierte Welt richtig zu verstehen.

Nur die klassischen Parteien, die sich außerhalb Deutschlands seit bald dreißig Jahren auflösen, sind für die Allianz der Demokraten alternativlos bei der Suche nach den richtigen Antworten auf wichtige Fragen. Doch daran zweifeln immer mehr Europäer unter dem Eindruck der Hilflosigkeit einst großer Parteien vor großen Herausforderungen, die sie veranlaßt, den herkömmlichen politischen Eliten insgesamt zu mißtrauen.

Demokratische Fassaden stehen unter Denkmalschutz

Die sogenannte politische Klasse ist mit sich selber beschäftigt. Sie diskutiert nur mit „Klassenkameraden“, zu denen vor allem Manager und Journalisten als Wirklichkeitsproduzenten gehören. Das nannte 1995 der US-Amerikaner Christopher Lasch den Aufstand der Eliten, die sich vom unterentwickelten Volk nicht dreinreden lassen wollen bei dessen von ihnen geplanter Umstrukturierung. 

Die politische Klasse ist nicht in der Lage, sich zu erneuern. Sie betreibt ihre Spielchen und Intrigen und hat jede Beziehung zur Realität verloren. Darüber debattieren im Zeitalter der möglichen oder schon offenkundigen Postdemokratie seit bald drei Jahrzehnten letzte Sozialisten, die keine neuen Linken sein wollen, keine bobos, bourgeoise Bohèmiens, die ihre Karriere genau im Blick haben und doch unglaublich offen sind für alles. Jacques Juilliard, Jean-Claude Michéa oder Michel Clouscard beobachten lange genug, wie der repräsentative Parlamentarismus, eine Erinnerung aus dem 19. Jahrhundert, gleichsam wie die Butter auf der heißen Kartoffel schwimmt. Das Politische hat vor dem Ökonomischen kapituliert. Die demokratischen Fassaden bleiben erhalten in einer Werte produzierenden und verwertenden Wertegemeinschaft, sie stehen unter Denkmalschutz. Im Parlament üben sich die Repräsentanten der Wertegemeinschaft und nicht mehr des souveränen Volkes in der Kunst, die Repräsentation zu repräsentieren. Virtuosität um ihrer selbst willen kann Überdruß erzeugen. Das wissen Musiker seit langem.