© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Geschichtspolitik: Warschau versus Brüssel
Polens Kampf
Stefan Scheil

Man schrieb den 4. September 1939, als im Büro von Michal Lubienski ein überraschender Besucher auftrat. Der Kollege und Abteilungsleiter Apoloniusz Zarychta meinte, Lubienski als Kabinettschef und rechte Hand des Außenministers sei genau die richtige Adresse für eine dringende Botschaft, die er auch gleich persönlich vorbeibrachte: Wenn nach dem laufenden Krieg gegen Deutschland die Friedensbedingungen zu formulieren seien, dürfe man eins nicht vergessen: für Polen eine angemessene Zahl von Kolonien in Übersee zu fordern.

Am gleichen Tag wurde an der Ostsee, in Danzig auf der „Westerplatte“, verbissen gekämpft. Etwa zweihundert polnische Bewaffnete hatten sich dort verschanzt und trotzten einer deutschen Übermacht. Wie das polnische Militär überall in diesem Krieg gingen sie motiviert, mit Opferbereitschaft und Siegeszuversicht ins Gefecht. Polen fühlte sich stark, gut vorbereitet und hatte mit Frankreich und Großbritannien zwei Weltmächte auf seiner Seite. Was konnte da am Ende schiefgehen? Es winkte die endgültige Abwehr deutscher Revisionsansprüche auf 1919 abgetretenes Gebiet und die Erfüllung eigener langjährig angestrebter Ziele mindestens in Danzig, Ostpreußen und Oberschlesien, vielleicht aber auch anderswo.

Mehr als ein Dreivierteljahrhundert später gibt es um diese Ereignisse einen eigentümlichen internationalen Streit. Die vergangenen Herbst gewählte polnische Regierung der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) möchte ein besonderes Zeichen nationalen Gedenkens setzen und plant die inhaltliche Umwidmung des kurz vor der Eröffnung stehenden Weltkriegsmuseums in Danzig. Es soll künftig im Zentrum ein polnisches Heldentum im Kampf um eben diese Westerplatte präsentieren. Zweiter großer Strang der polnischen Heldenverehrung wird in den kommenden Jahren der antikommunistische Partisanenkampf sein, der nach 1945 noch lange andauerte und dessen „verfemte Soldaten“ in Polen längst ohnehin vielfach Gegenstand besonderer Verehrung sind. Unverdrossener Kampf in aussichtsloser Lage also, ohne Rücksicht auf persönliche Hoffnungen und das eigene Leben, er soll das Vorbild für die Zukunft Polens sein. In Warschau scheint man mit harten Zeiten zu rechnen.

In der Tat hat der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski den geplanten Museumsbau in Danzig in seiner bisherigen Form schon 2008 als Angriff auf die Existenz der polnischen Nation bezeichnet. Da hat der Mann natürlich auch nicht ganz unrecht. Die Europäische Union und deren Unterorganisationen, deren geschichtspolitische Vorgaben still und leise in immer größeren Bereichen Einfluß nehmen, lehnen nationale Konzepte kategorisch ab. Es soll nach ihrem Willen keine ungebrochenen Helden mehr geben, in keinem Land. Und es dürfen nach Brüssels Willen vor allem keine zukunftsträchtigen nationalen Selbstbilder mehr präsentiert werden, die auf die Legitimität ethnischer Nationen verweisen. Das würde einen Markenkern der gegenwärtigen EU-Politik und allgemein der westlichen Politik angreifen.

Der besteht bekanntlich unter anderem im Bestreiten eben dieser Legitimität, wofür im Bereich der Geschichtsschreibung in Deutschland sehr entschlossen der gegenwärtige Direktor des Instituts für Zeitgeschichte steht, Professor Andreas Wirsching. Im übrigen ist dies einer der Gründe für die auch intellektuelle Gegnerschaft des Westens gegenüber dem aktuellen Putinschen Rußland, das sich bei allen inhaltlichen Differenzen mit Warschau historisch ebenfalls auf Heldengeschichten aus der Weltkriegsära beruft.

Mit Billigung und Teilfinanzierung durch die EU wurden Konzepte entworfen, Posten verteilt und Seilschaften gebildet, die alle auf ein angeblich modernes geschichtspolitisches Selbstverständnis der polnischen Nation 

hinauslaufen sollten. 

Nun also ein ähnlicher Streit um Polen. Wie alles andere, so hat auch dieser laufende Konflikt um das polnische Selbstbild selbstverständlich eine berufliche und karrieristische Ebene. In den vergangenen Jahrzehnten wurden mit Billigung und teilweise Finanzierung der EU manche Versprechen gegeben, Konzepte entworfen, Posten verteilt und Seilschaften gebildet, die alle auf ein angeblich modernes geschichtspolitisches Selbstverständnis der polnischen Nation hinauslaufen sollten. Dazu gehöre, wie regelmäßig zu vernehmen, neben den üblichen modischen Zutaten wie „Geschlechtergeschichte“ die Einsicht in eigene Vergehen und Versäumnisse. Geistige Grundlage dieser Haltung sollte wie überall in der EU die latente Ablehnung aller früheren Zeiten sein, in denen nicht das hochgehalten wurde, das heutzutage im EU-Standard als „Wert“ festgelegt wird.

Eine geschichtspolitische Wende in Polen, die solche sorgfältig bedachten Verhältnisse und sicheren Seilschaften bedroht, findet also entschlossene Gegner. So kann sich die Direktion des bisher im Bau befindlichen und jetzt von Regierungsseite in der Kritik stehenden polnischen Museums für den Zweiten Weltkrieg auf einen „internationalen Konsens“ stützen. Und auf einen Beirat, in dem unter anderem der Brite Norman Davies, der Deutsche Ulrich Herbert und der US-regierungsnahe Historiker Timothy Snyder sitzen. Es bedarf wenig Phantasie für die Vorstellung, daß diese Personen die Zusammenarbeit mit einem nationalpolnisch konzipierten Museum nicht weiterführen werden.

Beim EU-konformen geschichtspolitischen Projekt in Polen, um auch diesen Punkt zu erwähnen, ging es nicht um solche Dinge wie etwaige polnische Mitverantwortung für Vertreibungsverbrechen an Deutschen nach 1945 oder für systematische Ausschreitungen gegen die deutsche Volksgruppe im Herbst 1939. Solche Ereignisse spielen in der Diskussion – von allen „offiziösen“ Seiten – keine Rolle, wenn sie als Fakten nicht überhaupt abgeleugnet werden. Sie stehen außerhalb des Horizonts des jeweils gewünschten Gesamtgeschichtsbilds.

Aber es geht nur am Rand um fehlende bilaterale deutsch-polnische Fakten. Bei allen Differenzen in der Sache gleichen sich die streitenden Parteien außerdem darin, auch sonst wesentliche Elemente der Vergangenheit aus deren musealer und politischer Präsentation ausklammern zu wollen. In Polen soll das Bild einer reinen und unschuldigen Nation entstehen, die damals im Herbst jenes Jahres überfallen worden sei und trotz aller schwierigen Situationen während des folgenden Krieges nie aufgegeben habe. Das bedient den traditionellen polnischen Opferheldenmythos, auch mit Blick auf die polnischen Teilungen des 18. und die gescheiterten Aufstände des 19. Jahrhunderts.

An diesem Punkt wird es dann in der Tat in vielerlei Hinsicht interessant. Jeder weiß oder kann wissen, daß es einen überraschenden deutschen Überfall auf Polen im Jahr 1939 nicht gegeben hat. Wirklich überfallartig kam erst der sowjetrussische Angriff auf Polen am 17. September 1939, ohne jede Vorankündigung, ohne Beachtung des bestehenden Nichtangriffspakts zwischen beiden Staaten und ohne vorausgegangene Drohungen. Im Gegenteil hatte Moskau für den Kriegsfall sogar Waffenlieferungen in Aussicht gestellt. Der polnisch-deutsche Krieg hatte dagegen eine lange, im Jahr 1939 intensivierte Vorgeschichte. Er wurde in Polen erwartet, seit Frühjahr 1939 im Land propagandistisch vorbereitet und dort bei den maßgeblichen Stellen durchaus als Gelegenheit empfunden, zumal angesichts der vertraglich gegebenen außenpolitischen Konstellation.

Davon soll nun weder aus der Sicht der jetzigen polnischen Geschichtspolitik noch des westlichen Mainstreams die Rede sein. Von einem pragmatischen Standpunkt aus läßt sich das verstehen, denn die Vorgänge von 1939 sind tatsächlich für diese beiden Beteiligten überaus peinlich. Polen wurde damals aus unterschiedlichen Gründen das Ziel von Angriffen aus Deutschland und Rußland. Aber die größte Demütigung kam in diesem Jahr aus dem Westen.

Frankreich und Großbritannien entschlossen sich im September 1939, alle erst vor Monaten und teilweise sogar Tagen geschlossenen Verträge und verbindlichen militärischen Unterstützungszusagen gegenüber Polen zu brechen. Mehr noch: Man hatte weder in London noch in Paris je daran gedacht, sie einzuhalten. Polen war für den Westen ein nützliches Element in der politischen Kriegsvorbereitung, kein schützenswerter Partner, letztlich nur ein Mittel, kein Zweck. Sich nicht an diese ultimative Mißachtung der polnischen Nation und den Vertragsbruch der Westmächte erinnern zu müssen, dafür gibt es in der Tat von beiden Seiten nachvollziehbare Gründe.

Es gäbe weit mehr zu erinnern, als es die politisch korrekt abgezirkelte Vergangenheitsskizze westlicher Prägung vorsieht, aber auch mehr, als die glatten Heldenmythen umfassen, die in Rußland und Polen präsentiert werden. 

Es gäbe demnach weitaus mehr zu erinnern, als es die politisch korrekt abgezirkelte Vergangenheitsskizze westlicher Prägung vorsieht, aber auch mehr, als die glatten Heldenmythen umfassen, die derzeit in Rußland präsentiert werden oder die demnächst in Danzig zu erwarten sind. All diese mythischen Vorgaben haben gemeinsam, daß in ihnen die Fragen nach dem staatlichen Willen zur Macht und nach dessen Kriegskalkül nicht gestellt werden. Ihre Heldengeschichten wie die Opfergeschichten, ihre Gesellschaftsgeschichten wie die Geschlechtergeschichten, sie finden vor einem politisch leeren Raum statt.

Michal Lubienski nahm das Anliegen seines Kollegen Zarychta am 4. September 1939 zu den zahlreichen Kuriositäten polnischer Vorstellungswelten, die ihm in den Vorkriegsmonaten begegnet waren. „Ich fragte ihn, von wem wir denn diese Kolonien fordern sollten, von den Alliierten, von England und Frankreich oder vom neutralen Italien.“ Der zweite Mann im polnischen Außenministerium registrierte die lärmende Kriegsbereitschaft der polnischen Bevölkerung und das zynisch-elegante außenpolitische Kalkül seines Vorgesetzten, des Ministers Józef Beck, mit einem Kopfschütteln, das er seinem Tagebuch anvertraute. Auch Beck hatte bei den Bündnisverhandlungen in London im Frühjahr 1939 das Stichwort „Kolonien“ auf den Tisch gelegt. „Die polnische Großmachtpolitik verzichtete nicht auf Konzepte wie die Abtrennung der Ukraine und des Kaukasus von Rußland und formulierte weiterhin das Ziel, sich Danzig, wenn nicht sogar Ostpreußen usw. einzuverleiben“; dabei getragen von der eigenen Öffentlichkeit, die auf diese Dinge „unglaublich stolz“ war, notierte Lubienski.

Als im Herbst 1938 die deutsche Anfrage nach einer zoll- und kontrollfreien Durchfahrtsmöglichkeit in Richtung Ostpreußen eingetroffen war, hatte man das im polnischen Außenministerium trotzdem zunächst als technische Anfrage aufgefaßt. Nach einigen Wochen lag intern ein Gutachten vor, das verschiedene Möglichkeiten abwog und eine Brückenlösung ohne Anbindung an das polnische Straßennetz sowie ohne formale Abgabe polnischer Hoheitsrechte für eventuell akzeptabel erklärte. In den Beratungen der Staatsführung scheint es nie berücksichtigt worden zu sein. Die deutsche Seite sollte davon nie erfahren. Den Partnern in London und Paris verschwieg man vor Vertragsabschluß, daß es überhaupt akzeptable deutsche Vorstellungen in diese Richtung gegeben hatte.

Zutreffend schätzte die Stimmung in Polen schließlich jener Karikaturist ein, der im Sommer 1939 eine Zeichnung herausbrachte, auf der mit Blick auf die Deutschen zu lesen stand: „Sie wollen einen exterritorialen Streifen? – Den können sie jederzeit haben!“ Zu sehen war ein kräftiger Soldatenarm, der den Munitionsstreifen eines Maschinengewehrs hochhielt. Diese Mentalität und der damit verbundene stolze Offensivgeist gingen im Herbst 1939 in Selbstüberschätzung, west-östlichem Verrat und deutschem Militärschlag unter.

Heute ist man weit von der Antwort auf die Frage entfernt, wie sich in Europas Weltkriegsmuseen ein realistisches Panorama der tragischen, großen und vielfältigen Vergangenheit abbilden lassen würde. Immerhin: Europas Nationen dürfen sich nicht noch einmal auseinanderdividieren lassen. Es sollte sich ein Weg finden lassen, diese Einsicht auch ohne museale Lebenslügen zu verbreiten.






Dr. Stefan Scheil, Jahrgang 1963, studierte Geschichte und Philosophie in Mannheim und Karlsruhe. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Vorgeschichte und Eskalation des Zweiten Weltkriegs sowie zum politischen Antisemitismus in Deutschland. 2014 wurde er mit dem Historikerpreis der Schweinfurter Kronauer-Stiftung ausgezeichnet. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über das Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland („Weder Freund noch Partner“, JF­ 29/16).

Stefan Scheil: Polen 1939. Kriegskalkül, Vorbereitung, Vollzug. Verlag Antaios, Schnellroda 2014, 96 Seiten, gebunden, 8,50 Euro