© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Über den Tisch gezogen
Vor 70 Jahren regelte das Gruber-De-Gasperi-Abkommen die Zukunft Südtirols unter italienischer Herrschaft / Kritik an der defensiven Verhandlungstaktik Wiens
Reinhard Olt

Am 5. September werden auf Schloß Sigmundskron Repräsentanten Österreichs und Italiens im Gefolge der beiden Außenminister Sebastian Kurz und Paolo Gentiloni des 70. Jahrestages des Gruber-De-Gasperi-Abkommens gedenken. Dabei werden sie einander in gutnachbarlicher Beweihräucherung übertreffen und Toasts auf die angebliche „Magna Charta für Südtirol“ ausbringen. Für andere war und ist der Vertrag – wie für den SPÖ-Politiker Bruno Kreisky, der einst als Wiener Außenminister die Südtirol-Frage vor die Vereinten Nationen trug – ein „einmaliges Dokument österreichischer Schwäche“; gleichwohl haben sie sich damit arrangiert. Wieder andere jedoch erachten neben Inhalt und Folgen des Vertrags vor allem dessen Zustandekommen als „Verrat an den Südtirolern“. 

Italien war für den Westen wichtiger als Österreich

Wie war es dazu gekommen? Die provisorische österreichische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner (SPÖ) legte sich am 5. September 1945 auf die Forderung für die noch im Vertrag von Saint-Germain-en-Laye 1919 verweigerte Selbstbestimmung für Südtirol fest. Sie richtete ein Memorandum an die Londoner Außenministerkonferenz, in welchem sie auch die „Rückgliederung Südtirols“ an Tirol und damit Österreich forderte. Doch schon in London, wo vom 11. September an die alliierten Außenminister über die Behandlung des Friedenschlusses mit Italien sowie über Friedensverträge mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland verhandelten, war am 14. September eine „provisorische Festlegung“ auf Beibehaltung der Brennergrenze getroffen worden.

Davon wußte man jedoch weder in Wien und Innsbruck noch in Bozen etwas. Wohl aber in Rom, das von Nicolò Carandini, dem italienischen Gesandten in London, in Kenntnis gesetzt wurde. Daher bemühte sich Italien um die Forcierung seiner Interessen. Sozusagen als Kontrapunkt zur österreichischen Note an den Alliierten Rat richtete der italienische Mindespräsident Alcide De Gasperi zu Jahresbeginn 1946 an die in Rom akkreditierten Botschafter eine Note, in welcher er am Verbleib Südtirols bei Italien festhielt, zumal es „unentbehrliches Hinterland für die Industrie der Po-Ebene“ sei. 

Karl Gruber, ÖVP-Außenminister in der nach der Nationalratswahl vom 25. November 1945 gebildeten ersten regulären Regierung unter Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP), schlug daraufhin vor, offene wirtschaftliche Fragen bezüglich Südtirol „durch eine österreichisch-italienische Treuhandgesellschaft klären und lösen zu lassen“. Am 21. Januar 1946 ließ er dem Alliierten Rat ein Memorandum zukommen, worin er für den Fall der Rückgliederung Südtirols anbot: Verbleib der Wasserkräfte bei Italien und deren Nutzung durch österreichisch-italienische Gesellschaften, freie Wahl der Staatsbürgerschaft für die in Südtirol lebenden Italiener bei privilegiertem Sonderstatus hinsichtlich Sprache und Kultur; Unterstellung Südtirols unter Schutz der Vereinten Nationen, Gewährung einer Freihafenzone für Italien an der Donau. Daraufhin bekundete William B. Mack, Vertreter des britischen Foreign Office in Wien, Grubers Memorandum sei „ein großzügiger und staatsmännischer Beitrag zur Lösung des Problems“.

Wiewohl in London durchaus Sympathie für eine Rückgliederung Südtirols an Österreich bestand, ließ Außenminister Ernest Bevin im Unterhaus keinen Zweifel daran, daß Italien für den Westen wichtiger sei als Österreich. Daher könne es bis auf kleinere Berichtigungen keine Grenzänderungen geben. Weder die an Kanzler Figl am 22. April in Innsbruck während einer Großkundgebung  übergebenen und später nach Paris weitergereichten 155.000 Unterschriften von Südtirolern für die Wiedervereinigung Tirols, noch die Forderung nach Gewährung der Selbstbestimmung, wie sie auf Kundgebungen in Innichen, Brixen, Bozen und Meran sowie in Innsbruck, Salzburg und Wien erhoben worden waren, konnten die Alliierten zur Haltungsänderung bewegen. 

Wenngleich er offiziell für Selbstbestimmung und Rückgliederung des südlichen Tiroler Landesteils eintrat, überreichte Gruber offenbar unter dem Eindruck, der Inhalt könne unter dem Rubrum „kleinere Grenzberichtigungen“ Wirkung entfalten, am 12. April ein geheimes, namentlich nicht gezeichnetes Memorandum an Mack. Im wesentlichen sollte gemäß dem darin enthaltenen Vorschlag Südtirol einschließlich der Stadt Bozen – aber ohne deren während des Faschismus aus dem Boden gestampfte Industriezone und erhebliche Teilen des Südtiroler Unterlands – zu Österreich kommen. Doch dies fand ebensowenig Gehör wie seine später angebotene (formell in eine Regierungsnote gekleidete) „Pustertal-Lösung“; wiewohl Mack bekundet hatte, Bevin sei bereit, Österreich zu unterstützen, sofern es Anspruch auf das Pustertal erhebe. 

Doch am 30. April 1946 bestätigten die alliierten Außenminster Georges Bidault, Charles Byrnes, Wjatscheslaw Molotow und Bevin den schon am 14. September 1945 gefaßten Beschluß, „keine größeren Grenzveränderungen zwischen Österreich und Italien vorzunehmen“. Und tags darauf bekräftigten sie die damalige Festlegung, wonach Südtirol bei Italien bleibe. Die Bekanntgabe bewirkte in Tirol einen allgemeinen fünfstündigen Proteststreik sowie Demonstrationen; auch in Bozen, Meran und Brixen kam es zu Protestkundgebungen. Sämtliche Glocken Tirols läuteten zum Zeichen der Trauer. In Wien demonstrierten mehr als 100.000 Menschen für die Selbstbestimmung der Südtiroler und die Rückkehr des Landesteils zu Österreich. 

Auf einer Besprechung von Vertretern Nord- und Südtirols am 10. Juni in Innsbruck kamen massive Vorbehalte gegen die Politik von Kanzler und Außenminister zum Ausdruck. So hätten „die für Österreichs Außenpolitik verantwortlichen Männer in der Behandlung des Problems Ungeschicklichkeiten begangen, welche die gerechte Sache Südtirols ungünstig beeinflussen“. In der zwischen 15. Juni und 12. Juli zu Paris fortgesetzten Außenministerkonferenz wurde Österreichs Anspruch auf Südtirol neuerdings abgelehnt. Gruber ließ indes De Gasperi über Roberto Gaja, den italienischen Botschaftssekretär in Wien, wissen, er sei zu einem Gespräch über freundschaftliche Beziehungen und der Zusammenarbeit bereit, woraufhin De Gasperi am 20. Juli via Gaja mitteilen ließ, er sei damit einverstanden, sofern territoriale Fragen nicht zur Diskussion stünden.

Im Pariser Palais Luxembourg hatte am 15. Juli die Friedenskonferenz begonnen; sie dauerte bis 15. Oktober 1946. Den insgesamt 21 Delegationen wurden vier Südtirol-Memoranden unterbreitet, in denen eine Volksabstimmung über dessen Zukunft verlangt wurde. Falls kein Plebiszit durchsetzbar sei, möge man entweder auf eine „Liechtenstein-Lösung“ oder auf ein „Südtirol unter internationaler Kontrolle“ oder auf eine „Autonomie“ (allerdings nur unter den Bedingungen einer internationalen Garantie und ausschließlich für die Provinz Bozen) hinwirken. 

De Gasperi trat am 10. August vor die Friedenskonferenz und erklärte, hinsichtlich des „Alto Adige“ werde eine „weitreichende Autonomie vorbereitet“, und die Vertreter Südtirols hätten einer „Regionalautonomie bereits zugestimmt“, was die SVP vehement bestritt. Nach dem Beschluß zur Anhörung Österreichs – wogegen die Sowjetunion, Weißrußland, die Ukraine, Polen, Jugoslawien und die Tschechoslowakei stimmten – reiste auch Gruber nach Paris und vertrat am 21. August in seiner zusammen mit Figl ausgearbeiteten Rede vor der Vollversammlung den bekannten Standpunkt Wiens. Auch das am 25. August vorgelegte Südtirol-Memorandum Österreichs führte letztlich nicht zu einer Änderung der Alliierten-Position, Südtirol bei Italien zu belassen.

Im weiteren Fortgang der Ereignisse stand infolgedessen nur mehr die Autonomie-Frage im Mittelpunkt aller Überlegungen. Nach einer Unterredung mit Carandini sowie mit Bidault verlangte Gruber von den Südtiroler Delegierten, sie sollten ihm ihre Autonomie-Vorstellungen unterbreiten. Diese brachten am 26. August ihr Mißfallen zum Ausdruck, daß in dem von Gruber dem Generalsekretariat der Konferenz überreichten neuen Memorandum der österreichischen Regierung lediglich „eine Verwaltungsautonomie, wie sie Italien den Aostanern gewährt“, verlangt worden sei. Damit habe Gruber „vorzeitig alle Karten aufgedeckt“, und es werde „offenkundig, wie weit nachzugeben die österreichische Regierung bereit“ sei. Das Heranziehen der Aostatal-Autonomie – für die dort lebenden ethnischen Franzosen – als Muster kritisierten sie als „verunglückt und gefährlich“.  

Dessen ungeachtet deutete Gruber gegenüber Carandini die Bereitschaft für eine  Autonomieregelung an. Doch auf die von Österreich gewünschte „eindeutige territoriale Abgrenzung des autonomen Gebiets“ ließ sich De Gasperi gar nicht erst ein. Nachdem Gruber bereit war, die territoriale Geltung der zu treffenden Abmachung offenzulassen,  war der Weg für die Unterzeichnung der Vereinbarung am 5. September 1946 in der italienischen Gesandtschaft zu Paris geebnet. 

Versprechen auf Autonomie wurde von Rom gebrochen

Gegen das Versprechen, die Südtiroler vor Änderungen zu hören, nutzte De Gasperi später just die von ihm reklamierte und von Gruber zugestandene Unbestimmtheit der territorialen Geltung schamlos zugunsten der erst noch zu schaffenden Region Trentino-Alto Adige (Autonomiestatut vom 29. Januar; in Kraft getreten am 14. März 1948) aus. Weshalb das Abkommen in später für fortdauerndes Mißtrauen und absolut gerechtfertigte Auflehnung in Südtirol sorgte. 

Erst nach zahlreichen Anschlägen, Kreiskys Uno-Vorstoß 1960, welchem in den „Bomber-Jahren“ Leid und Tod, massive Vergeltungsmaßnahmen und Menschenrechtsverletzungen von seiten Italiens folgten, kam es nach langwierigen, zähen Verhandlungen im Dreieck Wien-Bozen-Rom zum Autonomie-Paket von 1969, welches ins Zweite Statut von 1972 mündete. Und aufgrund römischen Finassierens sollte es schließlich weitere zwanzig Jahre dauern, bis am 11. Juni 1992 mit der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung vor der Uno der Südtirol-Konflikt im völkerrechtlichen Sinne für beendet erachtet werden konnte. Das und die durchaus positive Entwicklung Südtirols – vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet – ändert nichts daran, daß die größte Ungerechtigkeit gegenüber den Südtirolern seit 1918/19 fortbesteht, solange ihnen nicht Gelegenheit zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts gegeben ist.