© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/16 / 02. September 2016

Debatte um den Wert der Motivation
Zwei deutsche Psychologen begründen die Seriosität psychometrischer Intelligenzforschung
Dirk Glaser

Mein Deutsch ist noch nicht perfekt“, sagt Abdullah Mohamad aus Afrin bei Aleppo schüchtern in die Kamera. „Aber seine Motivation!“, beteuert Stefan Maier, Chef der „Point S“-Autowerkstatt in Garmisch-Partenkirchen. Die beiden stellten sich als Protagonisten einer Werbekampagne der Bundesregierung zur Verfügung. Neben großformatigen Anzeigen in den Zeitungen propagiert die dazugehörige Internetseite Deutschland-kann-das.de die Vorteile der Zuwanderungswelle: lernhungrige Geflüchtete seien ein Segen für den offenbar leergefegten deutschen oder EU-Arbeitsmarkt.

Auch Chemikerin Siba Wardeh aus dem syrischen Salamiyah sei keine Last für die Sozialsysteme: Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft im oberfränkischen Hof stellt sich die 25jährige Blondine im Seniorenhaus „Am Unteren Tor“ vor und erhält prompt die Chance, sich im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes um Rentner zu kümmern – bis ihre Studienabschlüsse endlich anerkannt sind.

Preußische Kerntugenden ein Erfolgsgarant?

Die Botschaft vom Vorrang der „Motivation“ vor sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten ist keine Erfindung jener Werbeagentur, die für das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung arbeitet: Folgt man der Übersicht zum aktuellen Stand der psychometrischen Intelligenzforschung, den die an der ETH Zürich lehrende Psychologin Elsbeth Stern und ihr Grazer Kollege Aljoscha Neubauer in der Psychologischen Rundschau (1/16) vorstellen, bewegt sich die Kampagne der Merkel-Regierung durchaus im Hauptstrom der von Politik und Medien kultivierten Affekte gegen die gern als „Mythos“ verspottete Bedeutung von Intelligenz.

Um dies zu belegen, erinnern die beiden an die überaus selektive Rezeption von Beiträgen zur Ermittlung von Intelligenzquotienten (IQ) in deutschen Leitmedien. Das Resultat einer Langzeitstudie etwa, zur mathematischen Kompetenz von 3.500 bayerischen Schülern, brachte der Spiegel 2013 als Bestätigung zeitgeistkonformer Ressentiments auf den simplen Nenner: Intelligenz spiele nur in der Grundschule eine Rolle, danach „zählt allein die Motivation“.

Daher lasse sich in mathematischen Standardgebieten der Sekundarschule ein Minus an Intelligenz locker durch ein Plus an Fleiß kompensieren. Frei nach Napoleon: Genie ist Fleiß. Ähnlich akklamierte Die Welt 2013 Untersuchungen von US-Psychologen, denen zufolge die Leistung in Mathematik primär von „Selbst-Disziplin“ abhängen solle. In einer kühnen Volte zog der Autor Jochen Mai daher das Fazit: „Disziplin ist wichtiger als IQ. Die preußische Kerntugend bringt den Erfolg“.

Stern und Neubauer machen ein ganzes Ursachenbündel für solche Fehlwahrnehmungen verantwortlich. Vor allem akzeptiert die Öffentlichkeit des auf dem Versprechen von Gleichheit fußenden Sozialmodells nur widerstrebend Forschungen, die über Ungleichheiten Auskunft geben. Die sind in technizistischem Machbarkeitsglauben befangenen Gesellschaften um so weniger erträglich, wenn sie „natürlich“ determiniert scheinen wie genetisch fixierte geistige Veranlagungen. Daraus erkläre sich die immer noch virulente radikale Diskreditierung von Intelligenzmessung durch die 68er.

Deren Ideologie von der umfassenden Erziehbarkeit des Menschen stellte die Behauptung natürlicher Konstanten individueller Lernprozesse kurzerhand unter „Faschismus“-Verdacht. Wenn auch die 1980er eine „Renaissance der Intelligenzforschung“ brachten, die heute sogar als zentrale psychologische Disziplin gelte, so errege sie weiterhin politisch die Gemüter und kämpfe gegen drei weit verbreitete Vorurteile.

Erstens werde wie vor bald hundert Jahren, als der Experimentalpsychologe Edwin G. Boring aussagekräftige Tests zur geistigen Leistungsfähigkeit entwickelte, die wissenschaftliche Dignität des Konzepts „Intelligenz“ bezweifelt, da es keine strenge Definition wie in den exakten Naturwissenschaften gebe. Dieser Vorwurf sei falsch, stifte jedoch Verwirrung und begünstige die Etablierung einer Vielzahl vermeintlich alternativer Konzepte wie soziale und emotionale, Führungs- und Erfolgsintelligenz.

Ungeachtet dieser Inflationierung des Begriffs sei die Definition von Intelligenz eindeutig reserviert für die Summe „geistiger Fähigkeiten“ wie logisches Denken, Konzentrations- und Merkfähigkeit, Gedächtnisleistung, räumlich-visuelle Kompetenz, Wissen und Verständnis. Mit ihrer in den letzten 30 Jahren „beeindruckend“ fortschreitenden Klärung elementar-kognitiver und neurobiologischer Grundlagen von Intelligenz hätten Populationsgenetik und Neurowissenschaften das psychometrische Niveau deutlich angehoben.

Dank der Hirnforschung könne man heute substantielle Zusammenhänge zwischen Intelligenzleistungen und Indikatoren kognitiver und kortikaler Informationsverarbeitung nachweisen. Ebenso korrelieren Tests, welche die Arbeitsgedächtnisfunktionen erfassen, signifikant mit dem IQ. Ferner hätten jüngere EEG-Studien belegt, daß Intelligenz mit funktionellen wie strukturellen Merkmalen des Gehirns in Beziehungen stünde. Angesichts dieses hohen Standards empirisch-psychologischer Intelligenzforschung dürfe man das „Definitionsproblem“ getrost vernachlässigen.

Fleiß und Disziplin ersetzen keine geistigen Fähigkeiten

Den zweiten Vorwurf, Intelligenzleistung habe nichts mit Kompetenzen im „wahren Leben“ zu tun, hätten seit 2000 eine Reihe von Meta-Analysen widerlegt. Es könne daher auf der Basis Hunderter Studien an Stichproben eindeutig geschlossen werden, daß Intelligenz von größter Bedeutung für Schul- und Berufserfolg wie für ein „gesundes und glückliches Leben“ sei. Andere Faktoren wie Fleiß, Motivation, Disziplin oder Sozialkompetenz träten demgegenüber zurück. Entsprechend hingen etwa mathematisch-naturwissenschaftliche Höchstleistungen von räumlich-visuellen Fähigkeiten ab, die anderweitige „Kompetenzen“ nicht ausgleichen.

Der dritte, politisch am schwersten wiegende Einwand gegen IQ-Tests läuft auf die Unterstellung ihrer „biologistischen“ oder „rassistischen“ Instrumentalisierung hinaus. Doch kein ernstzunehmender Psychologe, halten die Autoren dagegen, setze heute mehr „genetisch“ und „nicht veränderbar“ gleich. Auf diesem von Richard Herrnstein und Charles Murray geförderten Mißverständnis habe die Skandalisierung ihres Erfolgsbuches „The Bell Curve: Intelligence and Class Structure in American Life“ (1994) beruht, das Afroamerikanern einen genetisch bedingten unterdurchschnittlichen IQ attestierte.

Die Harvard-Professoren hätten dabei ignoriert, daß Gene die optimale Ausbildung geistiger Fähigkeiten nur unter günstigen Umweltbedingungen fördern, unter denen Schwarze in den USA nachweislich nicht aufwüchsen. Indes wecken Stern und Neubauer mit dieser Kritik wie mit ihrem Seitenhieb auf das Erbe-Umwelt-Kapitel in Thilo Sarrazins Millionen-Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) entgegen der eigenen differenzierten Position den Eindruck, als würden sie den ererbten Anteil der Intelligenz erheblich niedriger veranschlagen als den erworbenen. Wäre dem so, wiese die Intelligenzdiagnostik kaum die von ihnen gerühmte Prognosesicherheit auf, die jener der Ultraschalldiagnostik gleichkäme.

Publikationen von Prof. Dr. Elsbeth Stern: www.ifvll.ethz.ch