© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
„Ich kann verstehen“
Christian Vollradt

War das etwa eine verdeckte Unmutsäußerung? Oder lag es nur an der Dunkelheit im „Humboldt-Saal“ der Berliner Urania? Als am vergangenen Samstag der Bundespräsident zum Festakt am „Tag der Heimat“ des Bundes der Vertriebenen (BdV) ankam, dauerte es eine halbe Minute, bis die ersten Teilnehmer zögerlich klatschten und schließlich alle applaudierten. 

Unter den Zuhörern dominierten die weißen Häupter der Erlebnisgeneration, doch die Alten werden weniger, und sie sind in der Mehrzahl inzwischen weiblich. Unter den jüngeren Teilnehmern viele Spätaussiedler aus den Staaten Mittel- und Osteuropas beziehungsweise den ehemaligen Sowjetrepubliken. Der – nicht nur – demographische Wandel im BdV, wie ihn nicht zuletzt die Stab-übergabe von Erika Steinbach an Bernd Fabritius vor zwei Jahren verdeutlichte, wird auch hier die Gewichte verschieben. 

Joachim Gauck hat mit seiner Teilnahme am „Tag der Heimat“ ein Versprechen an den BdV eingelöst, wie er am Beginn seiner Rede zum Leitmotto der Veranstaltung – „Identität schützen – Menschenrechte achten“ – betonte; buchstäblich in letzter Minute, denn im kommenden Jahr wird jemand anders Bundespräsident sein. Er lobte zunächst die politische Geste, ehemaligen deutschen zivilen Zwangsarbeitern endlich eine kleine finanzielle Entschädigung zu zahlen und „das Schicksal dieser Menschen aus dem Erinnerungsschatten zu holen“. Was dann folgt, ist viel präsidiales „Einerseits – Andererseits“: Glücklicherweise sei jene „Fokussierung auf eigenes Leid“ überwunden worden, die allzu oft verhindert habe, „sich der brutalen Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung zu stellen, die Deutsche zuvor zum Alltag ihrer Großmachtpolitik gemacht hatten.“ Doch auch die Unterdrückung oder Marginalisierung des Themas Flucht und Vertreibung (vor allem durch „linke und liberale Milieus“) sei gottlob passé. 

„Ich kann verstehen, daß Flüchtlinge und Vertriebene Unwillen auf sich zogen, solange Verbandsvertreter mit territorialen Forderungen auftraten oder selbstgerecht allein das eigene Leid thematisierten.“ Andererseits habe er auch Verständnis für „die Klagen und den Groll vieler Flüchtlinge und Vertriebener, die sich mit ihrem Schicksal zeitweilig von der Gesellschaft allein gelassen sahen und kaum auf Verständnis hoffen konnten.“

Die aktuelle Einwanderungswelle stellt Gauck der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber. Beifall erhält er besonders dann, wenn er auf die Unterschiede hinweist. Damals „kamen Menschen, die dieselbe Sprache sprachen, denselben christlichen Konfessionen und derselben Kultur angehörten“. Und heute dürfe nicht verschwiegen werden, „daß die augenblickliche Flüchtlingszuwanderung mit Risiken verbunden ist“. Daß es da Personen gebe, „die dem Aufnahmeland Schaden zufügen wollen“, mache es heute für viele „noch schwieriger als damals, wirklich Hilfsbedürftigen mit Offenheit und Empathie zu begegnen“, meinte der Bundespräsident. 

Als danach das Potsdamer Turmbläser-ensemble ein Medley deutscher Volkslieder intoniert, summt der Saal bei „Die Gedanken sind frei“ besonders mit.