© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Der Staat ist schwach, es lebe der starke Staat!
„Deutschland in Gefahr“: Das neue Buch von Rainer Wendt, dem Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, läßt sich als Menetekel lesen
Friedrich Pohl

Wendt also wieder. Der als meinungsstark geltende Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft scheint in ein Wespennest gestochen zu haben. Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen und als ehemalige Polizistin eine Kollegin, wirft ihm vor, Migranten mit Verbrechern gleichzusetzen und mit unerträglichen und hochgefährlichen Aussagen das Handeln von Brandstiftern zu legitimieren. Jörg Radek, stellvertretender Vorsitzender der konkurrierenden Gewerkschaft der Polizei (GdP), wirft ihm Populismus vor.

Rainer Wendt hat mit seinem Buch „Deutschland in Gefahr: Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt“ eine bemerkenswerte Bestandsaufnahme des Zustandes der Inneren Sicherheit im Lande vorgelegt. Die Reaktionen sind so vorhersehbar und ritualisiert, wie wir das aus dem politischen Diskurs in Deutschland gewohnt sind; der geübte Rezipient aber weiß inzwischen: Wo viel Gebell ist, muß ein saftiger Knochen liegen. Und tatsächlich – Wendt setzt zu einem veritablen Rundumschlag an gegen alles, wovon er unsere Sicherheit bedroht sieht:

Politiker ohne aktiven    Kontakt zum Arbeitsmarkt

l Eine Schule, die nicht vermag, Kindern den schuldigen Respekt vor Gesellschaft und Staat beizubringen, weil sie nur mit Mühe und Not noch den Bildungsbetrieb aufrechterhalten kann.

l Eine Justiz, die zu oft darauf verzichtet, notorischen Tätern Grenzen so deutlich aufzuzeigen, daß ein wirksamer Abschreckungseffekt eintritt.

l Eine oktroyierte Willkommenskultur, die Wendt als „künstlichen Begriff aus der Wunschkiste von Menschen mit edler Gesinnung“ beschreibt, „die ihr Gefühl zum Maßstab allen politischen Handelns machen“.

l Die törichte Vermessenheit, an die Integration Hunderttausender neuer Migranten zu glauben, obwohl jeder sehen kann, daß schon die Bestrebungen, frühere Migrantengenerationen zu integrieren, krachend gescheitert sind und dies aufgrund inzwischen verfestigter gesellschaftlicher Parallelstrukturen auch nicht mehr korrigierbar ist.

l Ein Meinungsklima, das ungeeignet ist, die zunehmenden Mißstände aufzugreifen, da immer mehr Menschen fürchten, sozial ausgegrenzt zu werden, wenn sie die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln politischer Korrektheit verletzen.

l Eine politische Kaste, die sich längst vom Wahlvolk emanzipiert hat, dieses allenfalls noch als Störfaktor eines glatten Politikbetriebes wahrnimmt und in der sich Protagonisten finden, „die zwar wissen, wie der Drogenmarkt funktioniert, aber nie in ihrem Leben aktiven Kontakt mit dem Arbeitsmarkt hatten“.

l Nicht zuletzt: Ein Parlament, das sich im Moment schicksalhafter Entwicklungen für Deutschland und Europa faktisch verabschiedet und die Bürger, die es repräsentieren soll, weitgehend unkontrolliertem Regierungshandeln aussetzt.

Und immer wieder: Der Staat, der „sich vom Acker macht“ und so die Bürger, die Anspruch auf eine funktionierende Zivilverwaltung haben, im Stich läßt, die Sparpolitik in Bund und Ländern, die es Schule, Polizei und anderen Behörden so schwer macht, die öffentliche Ordnung auf einem ausreichenden Niveau zu halten.

Seine stärksten Momente hat das Buch, wo Wendt beschreibt, wie die praktische Politik des letzten Jahres die Gewaltenteilung weitgehend abgeschafft hat: Eine Regierung, die geltendes Recht aussetzt und damit de facto gleichzeitig exekutiv und legislativ wirkt, wurde von einem Parlament begleitet, das dies mit kaum wahrnehmbarem Schulterzucken, jedenfalls ohne ernstzunehmenden Widerstand, hingenommen hat. So sieht Wendt die freiheitlich-demokratische Grundordnung auch nicht in erster Linie von ihren erklärten Todfeinden bedroht, sondern von ihren versagenden Protagonisten, der „Riesenkoalition“ aller Parteien, „die es nicht mehr nötig hat, den Willen des Volkes überhaupt noch zu registrieren, geschweige denn, danach zu handeln“.

Wendt sieht die Gefahr, daß der Bürger, sollte es nicht gelingen, die Innere Sicherheit wiederherzustellen, dem Staat das Gewaltmonopol wieder aus der Hand nimmt; eine Entwicklung, die er als Polizist nicht gutheißen kann. Sein Mantra heißt: Wir brauchen mehr Staat, wir brauchen einen stärkeren Staat! Aber kann man den Folgen verfehlter Politik überhaupt mit polizeilichen Mitteln und mit einem immer stärkeren Ausbau staatlicher Macht begegnen? Hier sind deutliche Fragezeichen angebracht, etwa wenn Wendt zur Verbesserung der Frühsozialisierung allen Ernstes einen Kindergartenzwang verlangt. Es gibt gute Gründe, die von Wendt beklagte zunehmende soziale Verwahrlosung als eine Folge der Schwächung der Familie und der grassierenden Vergesellschaftung der Erziehung anzusehen. Diese zu forcieren würde nur zu weiterer Auflösung der geschwächten Familienstrukturen führen und das Problem kaum entschärfen können. Auch wenn Wendt dem Bundesverfassungsgericht vorwirft, den Schutz der informellen Selbstbestimmung des Bürgers gar zu eng auszulegen, wird ihm nicht jeder folgen wollen.

Soziale Verwahrlosung als Folge geschwächter Familien

Sämtliche Forderungen Wendts zusammengerechnet, mag es manchem Leser, der das Ideal einer freien Bürgergesellschaft hochhält, etwas mulmig werden; das häßliche Wort „Polizeistaat“ mag ihm in den Sinn kommen. Aber auch dann, wenn man den Forderungen Wendts nach einem starken Staat, der sich umfassend für die meisten Belange des gesellschaftlichen Lebens zuständig erklärt, nicht zustimmt, kann man „Deutschland in Gefahr“ als ein Menetekel lesen. Der Verlust an Innerer Sicherheit, der besonders durch die ungesteuerte Migration des vergangenen Jahres eingetreten ist, läßt nur zwei Szenarien zu: Entweder wir richten uns in einer eher balkanisch zu nennenden Lebenswirklichkeit ein, in der Sicherheit zum Luxusgut weniger Begüterter wird, oder wir gehen den von Wendt vorgeschlagenen Weg und erkaufen uns Innere Sicherheit mit deutlichen Einschränkungen unserer persönlichen Freiheit. Beide Optionen lassen harte Reibungen an Geist und Buchstaben des Grundgesetzes erwarten. Aber das Kind liegt nun einmal im Brunnen, und Wendt ist nur der Bote dieser schlechten Nachricht.

Rainer Wendt: Deutschland in Gefahr. Wie ein schwacher Staat unsere Sicherheit aufs Spiel setzt. Riva-Verlag, München 2016, gebunden, 200 Seiten, 19,99 Euro