© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

„Richter sollten mehr von der Lebenswirklichkeit kennen“
Rainer Wendt im Interview: Der Staat kommt seiner Schutzpflicht gegenüber Kriminalitätsopfern zuwenig nach
Christian Rudolf

Herr Wendt, Sie kennen die Polizeiarbeit von innen. Warum sind Polizisten heute weniger zufrieden mit ihrem Dienstverhältnis als früher?

Rainer Wendt: Unzufriedenheit gab es in allen Zeiten in der Polizei. Früher waren die Gehälter erheblich niedriger, die Aufstiegschancen geringer, und auch Gewalt gegen die Einsatzkräfte hat es immer gegeben. Objektiv gesehen haben sich viele Arbeitsbedingungen sogar verbessert, aber die notorische Nörgelei mancher politischer Mandatsträger an den Sicherheitsbehörden, das ständige Mißtrauen und das fest verankerte Feindbild mancher politischer Kreise gegen Sicherheitsbehörden insgesamt zehren an der Motivation.

Die Brandenburger Polizei soll zum Jahreswechsel immerhin einen von zwei bestellten Wasserwerfern bekommen. Warum erst jetzt ein spätes Umdenken?

Wendt: Die politische Führung hat überall in Deutschland die Entwicklung der Inneren Sicherheit unterschätzt. Insbesondere nach der Wiedervereinigung hat man geglaubt, alle Gefahren gehörten der Vergangenheit an. Vielfach ist man jetzt umsichtiger geworden, und auch die Haushaltspolitiker begreifen langsam, daß Sicherheit ihren Preis hat. Gerade die Wasserwerfer sind eines der wirksamsten Distanzmittel der Polizei, wenn es um Großveranstaltungen geht, die einen gewalttätigen Verlauf nehmen.

In den vergangenen zwei Sommermonaten ist die Zahl der illegal Einreisenden über das Flüchtlingstransitland Schweiz stark gestiegen. Was muß geschehen, damit sich der irreguläre Zustand an den deutschen Grenzen nicht immer weiter fortsetzt?

Wendt: Langsam verstehen mehr und mehr Länder der EU, daß es darum geht, die europäischen Außengrenzen wirksam zu schützen und wir deshalb nationale Souveränitätsrechte zugunsten einer effektiven Grenzsicherung neu justieren müssen. Frontex muß eigene operative Befugnisse bekommen, das weiß mittlerweile jeder. Aber bis es soweit ist, müssen wirksame Maßnahmen zum Schutz eigener Grenzen und zur Kontrolle von Migrationsbewegungen ergriffen werden. Unsere Bundespolizei hat ausgezeichnete Fähigkeiten, man muß sie nur lassen und ihr die notwendigen personellen und technischen Möglichkeiten verschaffen.

Sie halten in Ihrem Buch die Beobachtung fest, daß erheblich mehr Bürger als früher zu Selbstbewaffnung greifen. Ist ihnen das zu verdenken?

Wendt: Ich kann verstehen, wenn die Menschen mehr Kriminalitätsfurcht entwickeln, trotzdem halte ich das für den falschen Weg. Tatsächlich schafft man durch „Selbstbewaffnung“ nur die Fiktion von Sicherheit, und es kann zu gefährlichen Verwechslungen kommen, etwa wenn Schreckschußwaffen nicht als solche erkennbar sind.

Viele Bürger empfinden eine Art Ungleichbehandlung in der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten: Parkt ein deutscher Normalo seinen Wagen im Halteverbot und will das Bußgeld nicht zahlen, bekommt er mächtig Ärger. Wenn nordafrikanische „Antänzer“ in einer deutschen Fußgängerzone ihr Unwesen treiben, nimmt die Polizei nur deren Personalien auf.

Wendt: Es ist notwendig, auch im Bereich des Straßenverkehrs das notwendige Maß an Umsicht und die Einhaltung von Regeln durchzusetzen. Aber auch und gerade in dem von Ihnen beschriebenen Bereich darf der Staat sich eben nicht darauf beschränken, nur die Personalien der Täter festzustellen – für die Wahrnehmung seiner Schutzpflicht gegenüber den Opfern ist das erheblich zuwenig. Es ist Aufgabe der Justiz, vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen und innerhalb dieser Möglichkeiten konsequenter durchzugreifen.

Woher kommt es, daß deutsche Richter teilweise grotesk milde Urteile fällen?

Wendt: Manche Urteile lassen die deutsche Öffentlichkeit zum Teil fassungslos zurück. Die Unabhängigkeit unserer Gerichte ist ein hohes Gut, aber manche Urteile, die im Namen des Volkes gesprochen werden, werden eben von weiten Teilen dieses Volkes nicht mehr verstanden und senden völlig falsche Signale aus. Es wäre zu wünschen, daß Richter mehr von der Lebenswirklichkeit in der Inneren Sicherheit kennen. In unserer Rechtsarchitektur stehen materielle Rechtsgüter nicht immer in einem nachvollziehbaren Verhältnis zum elementaren Anspruch der Menschen auf Unverletzlichkeit der körperlichen Integrität und sexuellen Selbstbestimmung.

In Ihrem Buch beklagen Sie einen Werteverfall schon unter Jugendlichen. Ihre Forderung nach einem für alle geltenden Kindergartenzwang griffe indes stark in die Elternautonomie ein.

Wendt: Ja, das stimmt, ich bin trotzdem davon überzeugt, daß dies die richtige Maßnahme wäre. Auch die Schulpflicht greift in die Elternautonomie ein, ohne daß jemand auf die Idee käme, dies ernsthaft in Frage zu stellen.

Müßten Sie sich nicht für eine starke Intensivierung des schulischen christlichen Religionsunterrichts einsetzen, der gewaltpräventiven Wirkung wegen?

Wendt: Nein, ich glaube, das müßte ich schon deshalb nicht, weil ich davon zuwenig verstehe. Mir ist, ehrlich gesagt, völlig egal, an welchen Gott die Menschen glauben und ob sie überhaupt an einen glauben. Die schiefe Lebensbahn wird jemand meiden, der eine Erziehung genossen hat, die geprägt ist von Respekt, liebevoller Konsequenz und der Erkenntnis, daß unsere Gesellschaft nur dann inneren Frieden hat, wenn ein Grundkonsens in der Normbefolgung herrscht. Und wenn wir das erreicht haben, kann jeder in seine Kirche gehen, das geht mich nichts an und den Staat auch nicht.        






Rainer Wendt, Jahrgang 1956, ist seit 1973 aktiv im Polizeidienst tätig. Er ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG).