© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Außer Kontrolle
Migration über das Mittelmeer: Zehntausende Afrikaner auf dem Sprung / Der Druck auf Italien steigt
Fabio Collovati

Ein Schakal gilt in der Natur als opportunistischer Fleischfresser, der sich bevorzugt von Aas ernährt. Also jemand, der andere die Drecksarbeit erledigen läßt. Vor der Küste Libyens lungern in diesen Tagen auffallend viele Schakale herum. So nennen Einheimische, aber auch internationale Hilfsorganisationen Menschen, die in Fischerbooten im Schutz der Dunkelheit auf Boote voller Flüchtlinge warten. Deren Tankfüllungen reichen gerade, um das libysche Hoheitsgewässer zu verlassen. „Dort warten die Schakale wie Aasfresser auf ihre Gelegenheit: Wähnen sie sich in Sicherheit, schlachten sie zurückgelassene Boote aus. Oder montieren gleich die wertvollen Motoren von noch besetzten Booten ab. Um sie einige Tage später mit einer neuen Ladung Menschen wieder aufs Meer zu schicken. Die Flüchtlinge werden hilflos zurückgelassen“, berichtet das Recherchezentrum correctiv.org. 

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration sind allein in diesem Jahr rund 105.000 Flüchtlinge mit dem Boot nach Italien gekommen, viele von ihnen brachen in Libyen auf. In den vergangenen Wochen ist die Situation eskaliert. Seit die sogenannte Balkanroute geschlossen ist, haben sich die international vernetzten Schlepper Alternativen gesucht. 

Das krisengeschüttelte Libyen ist dabei ein idealer Ort zum Menschenschmuggeln. Die Bürgerkriegsparteien haben sich erst im vergangenen Dezember auf einen brüchigen Friedensvertrag einigen können, die Umsetzung hin zu einer parlamentarischen Demokratie wird aber noch auf sich warten lassen. „In Libyen herrscht Anarchie“, heißt es aus dem Auswärtigen Amt – ein Eldorado für Schlepper. Die gehen immer skrupelloser und professioneller vor. Die meisten Flüchtlinge kommen derzeit zwar nicht mehr aus Syrien, aber offenkundig motiviert vom laxen Umgang innerhalb der EU mit den Zuwanderungsströmen der vergangenen Jahre suchen nun vor allem West- und Zentralafrikaner ihr Heil in der Flucht gen Norden.

Agadez – Drehscheibe für die, die nach Norden wollen  

Hunderte junge Männer – die Fluktuation ist groß – starten täglich diesen Trip nach Libyen in Agadez . Die Stadt im Zentrum des bitterarmen Niger dient als Drehscheibe für Migranten aus Guinea, Nigeria, Gambia, der Elfenbeinküste oder aus Somalia. Alle hoffen auf ein Leben als Sänger oder Fußballspieler in Frankreich oder Deutschland.

Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Fabrice Leggeri, warnt daher vor weiter steigenden Flüchtlingszahlen: Der Migrationsdruck sei „immens“. „Es ist aktuell nicht möglich, dafür zu sorgen, daß die Schlepper bereits an den Küsten effektiv bekämpft werden. Dafür ist es in Libyen viel zu gefährlich. Wir arbeiten jetzt im Rahmen der EU daran, die libysche Küstenwache ab Herbst ausbilden zu können“, erklärt Leggeri und betont, daß die Situation „in dem Land außerhalb jeder Kontrolle“ sei. 

Kritiker werfen Frontex mittlerweile vor, im Mittelmeer eine Art Fährgeschäft nach Europa zu betreiben. Man nehme die Flüchtlinge auf hoher See auf und bringe sie sicher nach Italien. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ vermeldete allein Ende August die Rettung von 3.000 Migranten an nur einem Tag. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hat daher bereits eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU gefordert. In der vergangenen Woche gab es Tage, an denen mehrere tausend Menschen nach Italien kamen. Sie berichten übereinstimmend, daß sie teilweise Fußmärsche von mehreren hundert Kilometern zurückgelegt hätten, um nach Libyen zu gelangen. 

 Dort seien sie in Unterkünften in Küstennähe untergebracht und mittels einer App zum Ablegeort gelotst worden: Frontex bezeichnet die Vorgehensweise als „höchst professionell“. Die Schlepper setzen darauf, daß die internationalen Behörden mitspielen. Teilweise riefen die Schlepper direkt bei der sizilianischen Polizei an, um mitzuteilen, daß Boote auf dem Weg seien. Solange ein Grenzschutz effektiv nicht möglich sei, kämen die Boote mit hoher Wahrscheinlichkeit in europäisches Gewässer. „Es klingt zynisch, aber die Schlepper haben kein Interesse daran, daß Menschen sterben. Das spricht sich herum und ist schlecht für das Geschäft“, betont Leggeri. 

In Italien gerät die Situation zunehmend außer Kontrolle. Rund 140.000 Menschen sind laut Innenministerium in Einrichtungen untergebracht, die überquellen. Mailand sucht händeringend eine Unterkunft für 3.500 Flüchtlinge. Eine Zeltstadt fand ebensowenig Gegenliebe wie die Nutzung des Expo-Geländes. Verteidigungsministerin Roberta Pinotti hat nun eine Kaserne zugesagt. Im Süden Italiens ist die Lage völlig eskaliert. Viele Menschen campen unter freiem Himmel, schlagen sich mit Betteln und Diebstählen durch. Die meisten zieht es ohnehin in den Norden. 

Von Mailand ist die Schweiz nicht mehr fern. Dort tobt mittlerweile eine erbitterte Diskussion um den Umgang mit Flüchtlingen. In der norditalienischen Stadt Como sind in den vergangenen Wochen fast 1.000 Menschen angekommen, die an der Schweizer Grenze gestrandet sind. Linke Politiker und Medien werfen dem verantwortlichen Bundesrat Ueli Maurer von der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) Rassismus und einen Verstoß gegen die Asylregelungen vor. Maurer bestreitet dies. Das Grenzwachtkorps wende lediglich das Gesetz an, wenn es Asylsuchende auf der Durchreise nach Italien zurückschicke „Es läuft alles korrekt ab“, sagte Maurer in einem Interview und betonte, daß „es viele gibt, die erklären, daß sie nach Deutschland wollen“. Wenn die Grenzwächter merkten, daß dies der Fall sei, würde man dies abweisen. Daraus zu schließen, die Grenzwächter würden Leute daran hindern, ein Asylgesuch zu stellen, entbehre jeglicher Grundlage, erklärt Maurer. „Hat eine Person keine gültigen Papiere und kein Visum, lassen wir sie nicht durch. So will es das Gesetz.“ 

Obama lädt zum großen Flüchtlingsgipfel 

Auch die Schweizer Behörden berichten, daß sich die „Klientel“ verändert habe. Weniger Syrer, dafür mehr Afrikaner. Und die Zahlen dürften weiter ansteigen. 350.000 bis 600.000 Menschen leben laut Schätzungen im Flüchtlingslager Dadaab im Osten Kenias, die meisten von ihnen aus dem benachbarten Krisenstaat Somalia. 

Das Lager gilt als das weltweit größte und existiert seit 25 Jahren. Im kommenden Frühjahr hat die Regierung die Schließung angekündigt. Die Bewohner sollen nach Somalia abgeschoben werden. Frontex-Chef Leggeri macht sich keine Illusionen: „Viele, sehr viele werden es illegal nach Europa versuchen.“ Die Schakale werden es gern hören. Doch Schakale hin, Schakale her, für den 20. September hat US-Präsident Obama alle wichtigen Staats- und Regierungschefs zu einem Flüchtlingsgipfel geladen.

Foto: Frontex-Einsatz vor der Küste Libyens: Kritiker sprechen von einem Fährgeschäft, das den Schleppern in die Hände spielt