© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Wettbewerbsnachteil beim Kugelstoßen
Appell an die Bundesregierung: Wirtschaftsvereinigung Stahl warnt vor Verschärfung des CO2-Emissionshandels / Hunderttausende Arbeitsplätze bedroht?
Christian Dorn

Mit der Weite von 22,52 Metern gewann der Amerikaner Ryan Crouser die olympische Goldmedaille im Kugelstoßen. David Storl erreichte nur Rang sieben. Gar keine Plazierung belegt hätte der deutsche Leichtathlet, wäre seine Kugel dreimal so schwer gewesen – doch das wiederspräche einem fairen Wettbewerb. Doch genau dieses Szenario entspricht dem Verhältnis, dem sich die deutsche Stahlindustrie im globalen Wettstreit ausgesetzt sieht.

Ursache hierfür ist der Zwangskauf von „CO2-Zertifikaten“, die faktisch Strafgebühren für den Kohlendioxidausstoß sind. Die industriellen Strompreise in den USA oder China sind nur halb oder nur ein Drittel so hoch wie in Deutschland. Darauf wollte die Wirtschaftsvereinigung Stahl vorigen Freitag medienwirksam zwischen Kanzleramt und Reichstag hinweisen, wo ein deutscher Kugelstoßer mit einer überdimensionalen Kugel gegen einen chinesichen Kontrahenten antrat: anspielend auf die staatlich geförderten Überkapazitäten Chinas in der Stahlproduktion, die zum Preisdumping führen (JF 10/16).

So dürften die Kapazitätsüberhänge Chinas – trotz aller Absichtserklärungen – 2016 auf ein Rekordniveau von 430 Millionen Tonnen steigen, eine Menge, mit der allein der Stahlbedarf von Europa, Nordamerika und den Nachfolgestaten der Sowjetunion mehr als vollständig gedeckt werden könnte. Auch der G20-Gipfel im chinesischen Hángzhou brachte keine Lösung, wurde dort doch die Verantwortung für die Überkapazitäten in der Stahlproduktion von mehreren hundert Millionen Tonnen vernebelt, indem diese zu einem „globalen“ Problem deklariert wurden.

Zugleich will die EU-Kommission, den europäischen Emissionsrechtehandel (ETS) ab 2021 drastisch verschärfen, was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stahlindustrie massiv beeinträchtigen würde. So würden der Branche durch die vorgeschriebene Reduzierung freier Zertifikate 2021 bereits 31 Prozent derselben fehlen, im Jahr 2030 mit 48 Prozent fast die Hälfte. Zugleich soll der Zertifikatspreis für zugekaufte Emissionsrechte pro CO2-Tonne von 20,10 Euro im Jahr 2021 auf 40,70 Euro im Jahr 2030 ansteigen, was zu noch höheren Stromkosten führen würde. Dabei sind die Preise für Industriekunden in Deutschland zwischen 2002 und 2014 um 125 Prozent gestiegen. Die Kostenwirkungen des EU-Kommissionsvorschlages würden laut einer Prognos-Studie von 584 Millionen Euro im Jahr 2021 auf bis zu 1,6 Milliarden Euro im Jahr 2030 klettern. Da diese Kosten im Wettbewerb nicht weitergegeben werden können, würden die Stahlunternehmen ab 2023 Verluste schreiben und Investitionen zurückfahren.

Die Folge wäre eine schleichende De-Industrialisierung, da die Stahlfirmen ins Ausland ausweichen müßten. Desaströs wären die Folgewirkungen, rechnet die Wirtschaftsvereinigung Stahl vor: auf einen Euro Mehrbelastung in der Stahlindustrie kämen 30 Euro Verlust in der Volkswirtschaft. Das Bruttoinlandsprodukts sinke jährlich um 30 Milliarden Euro. Bis zum Jahr 2030 würden aufgrund des ETS die Beschäftigung und Produktion in der Stahlindustrie um 60 Prozent sinken. Dies entspreche einem Verlust von 380.000 Arbeitsplätzen.

Die deutsche Stahlindustrie hat mit einer Jahresproduktion von 43 Millionen Tonnen Rohstahl zwar nur noch 87.000 Arbeitnehmer – aber sie ist Werkstofflieferant für den Maschinenbau oder die Auto- und Elektroindustrie. Insgesamt entfallen auf die größten stahl­intensiven Branchen 4,7 Millionen Stellen und damit mehr als die Hälfte der Industriearbeitsplätze in Deutschland.