© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

Volksretter, Gottkaiser, Massenmörder
Auch vierzig Jahre nach seinem Tod bleibt Mao Tse-tungs historische Lebensleistung umstritten
Peter Kuntze

Erst wenn der Sarg geschlossen ist, heißt es in einem chinesischen Sprichwort, läßt sich ein Urteil über einen Menschen fällen. Kurz vor seinem Tod am 9. September 1976 empfing der seit Jahren an Parkinson leidende Mao Tse-tung noch einmal Hua Guofeng, seinen von ihm ernannten Nachfolger, und die linksradikale „Vierer-Bande“, angeführt von Jiang Qing, der Ehefrau des „Vorsitzenden“. Auch bei ihm, so der 82jährige, sei es nun langsam an der Zeit, eine Bewertung abzugeben.

Die Bilanz zog Mao selbst: „In meinem Leben darf ich auf zwei Leistungen zurückblicken. Ich habe Tschiang Kai-schek jahrzehntelang bekämpft und ihn auf einige Inseln vertrieben. Nach einem achtjährigen Krieg habe ich die Japaner nach Hause geschickt. Schließlich bin ich nach Peking, bis in die Verbotene Stadt vorgedrungen.“ Und, Bezug nehmend auf die Gegenwart, fügte er hinzu: „Wie ihr wißt, ist die andere Leistung die Kulturrevolution. Doch nur wenige unterstützen sie, viele sind gegen sie.“

Massenmord durch die Hungerpolitik nach 1958

Dieses Resümee eines langen und ereignisreichen Lebens kam der Wahrheit recht nahe, doch neben der Kulturrevolution, die Mao auf dem Totenbett richtig einschätzte, fehlte die zweite von ihm verschuldete Katastrophe: der „Große Sprung nach vorn“. Die zwischen 1958 und 1961 forcierte Errichtung der Volkskommunen sollte nach dem Willen Maos und der ihn unterstützenden Linken China im Wettbewerb mit der Sowjetunion dem Ziel des Kommunismus  – einer klassenlosen, sich selbst verwaltenden Gesellschaft – näherbringen. Das gigantische Sozialexperiment endete jedoch in einer verheerenden Hungersnot, der Schätzungen zufolge bis zu fünfzig Millionen Menschen zum Opfer fielen.Somit dürfte Deng Xiaoping, der 1978 die bis heute überaus erfolgreich praktizierte Reform- und Öffnungspolitik einleitete, mit seiner Einschätzung recht behalten: „Im allgemeinen kann man sagen, daß bis 1957 die Führung Mao Tse-tungs richtig war, doch ab diesem Zeitpunkt häuften sich die Fehler.“ Das bedeutet, daß von den 27 Jahren zwischen der von Mao am 1. Oktober 1949 proklamierten Gründung der Volksrepublik und seinem Tod nur acht Jahre seines politischen Wirkens als mehr oder minder positiv zu gelten hätten. Maos bleibende historische Verdienste wurzeln vielmehr in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, als sich China am Tiefpunkt seiner Geschichte befand.

1893 als ältester Sohn einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren, erlebte Mao den Niedergang des seit mehr als zweitausend Jahren auf konfuzianischen Prinzipien beruhenden Kaiserreichs, die Verelendung breiter Volksmassen sowie die Erniedrigung, Unterjochung und Zerstückelung des Landes durch fremde Mächte, wodurch China auf die Stufe einer Halbkolonie sank. Die Philosophie-Dozentin Jie Li, die 1993 in Basel promoviert wurde, schrieb in ihrer 1996 auch in Peking veröffentlichten Dissertation über „Nietzsches Gestalt des ‘letzten Menschen’ bei Lu Xun“:  „Chinas glänzende Geschichte wurde durch die Aggression des Imperialismus hundert Jahre lang (von 1840 bis 1945) unterbrochen.“ Während dieser Epoche sei auch im Reich der Mitte die Gestalt des „letzten Menschen“ entstanden. Lu Xun (1881–1936), Chinas bedeutendster Autor der Neuzeit, beschrieb seine damaligen Zeitgenossen im Sinne Nietzsches als degenerierte Wesen: Sie seien unaufrichtig und lieblos, schikanierten und betrögen einander, tyrannisierten Schwächere und buckelten vor den Mächtigen. Erst nach dem Sturz der imperialistischen Herrschaft und dem Ende des Feudalismus, so Jie Li, sei jener Menschentypus nach und nach verschwunden. Die chinesische Nation „fand wieder zurück zu ihren traditionellen Tugenden wie Fleiß, Tapferkeit, Weisheit, Bescheidenheit und Ehrlichkeit“.

Diese Wende war nicht zuletzt Maos Verdienst, der 1921 in Schanghai zu den Gründern der Kommunistischen Partei Chinas gehörte. Es war Mao, der gegen den Willen der von Moskau entsandten Berater auf das revolutionäre Potential der unter Fronherrschaft lebenden Bauern setzte und nicht, wie es der orthodoxe Marxismus lehrte, auf das damals zahlenmäßig geringe städtische Proletariat. Nicht zuletzt dieser „chinesische Weg“ war der Keim für das spätere Zerwürfnis mit den sowjetischen Genossen. Mao zettelte Bauernaufstände an und machte sich 1934 mit der von ihm mitgegründeten „Roten Armee“ auf den legendären Langen Marsch quer durch China – verfolgt von den Truppen Tschiang Kai-scheks, des Führers der Kuomintang, der Nationalen Volkspartei, mit der die KP ursprünglich verbündet war.

Offizielles Geschichtsbild zu Mao immer noch positiv  

In Yenan in der nördlichen Provinz Shensi bauten Mao und seine Getreuen einen kleinen Sowjetstaat auf. Als die Japaner 1937 China überfielen, arbeiteten KP und Kuomintang noch einmal zusammen, um die Invasoren zu vertreiben. Nach Japans Kapitulation wurde der chinesische Bürgerkrieg fortgesetzt; er endete mit der Flucht der Nationalisten auf die Insel Taiwan, wo Tschiang Kai-schek, unterstützt von den USA, bis zu seinem Tod 1975 von der Rückeroberung des Festlandes träumte. Dort hatte Mao 1949 die Gründung der Volksrepublik mit den Worten verkündet: „China hat sich erhoben! Unsere Nation wird nie wieder eine gedemütigte Nation sein!“ Die Verehrung, die Mao damals wie einem Gottkaiser zuteil wurde und heute noch immer von vielen zuteil wird, bezieht sich auf jene Wiederherstellung der nationalen Souveränität, die die Genesung der kollektiven Psyche einleitete. Ob indes die offiziell propagierte Version Bestand haben wird, Maos Politik sei insgesamt zu siebzig Prozent positiv und lediglich zu dreißig Prozent negativ gewesen, ist weiter offen.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda 2014).