© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/16 / 09. September 2016

„Human Intelligence“ in der Kriegführung
Falko Bells Analyse über den menschlichen Faktor angesichts der Erfolge des englischen Nachrichtendienstes im Zweiten Weltkrieg
Konrad Faber

Angesichts der erfolgreichen Dechiffrierung deutscher Enigma-Funksprüche im Zweiten Weltkrieg durch die Briten ist „Human Intelligence“, die Gewinnung von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen mittels menschlicher Quellen, bei der Erforschung der Aktivitäten des englischen Geheimdienstes in den vergangenen Jahrzehnten stark vernachlässigt worden. Dies meint zumindest der junge deutsche Historiker Falko Bell, welcher im Frühjahr 2016 eine einschlägige Dissertation vorlegte, zu welcher er eine Unmenge freigegebener englischer Geheimdienstakten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auswertete. Es geht hier zwar auch um britische Spione in Deutschland sowie um die Tätigkeit von britischen Nachrichtendienstlern, die von britischen Botschaften in neutralen Ländern aus erfolgreich Deutschland ausspähten, wie etwa der britische Marineattaché Henry Denham in Schweden, der sogar Schwedens militärischen Geheimdienstchef Carl Petersen zu seinen Quellen zählen konnte. 

Frühzeitige Kenntnis über die deutschen V-Waffen

Es überrascht dennoch, welche vielfältigen und zugleich wichtigen Erkenntnisse die Briten den ab Ende 1939 immer zahlreicher in ihre Hand fallenden deutschen Kriegsgefangenen entreißen konnten. Hier wurden alle geheimdienstlichen Register gezogen in Form von sorgfältigen, methodischen Befragungen, mit Verhören nach dem Muster „Guter Polizist, böser Polizist“, bis hin zum flächendeckenden Abhören der Gefangenen in ihren Unterkünften und dem zielgerichteten Einsatz von speziellen Spitzeln, welche sich als kriegsgefangene deutsche Offiziere ausgaben und interessante Zielpersonen intensiv aushorchten. Darauf hatte, zumindest über die britische Praxis gegenüber höheren Offizieren, vor einigen Jahren bereits der Historiker Sönke Neitzel hingewiesen.

Hin und wieder griff man sogar zu Drogen und Gewalt. Anhand der Luftschlacht um England 1940 zeigt Bell, welche gewichtigen Erkenntnisse auf taktischem Gebiet die Gefangenenausforschung für die Engländer einbrachten. Ebenso werden die positiven Auswirkungen aufgezeigt, welche die frühzeitige Kenntnis über die deutsche V-Waffen-Entwicklung und V-Waffenproduktion für England besaß. 

Strategisch indessen, dies zeigt Bell deutlich in seinem dritten Fallbeispiel, irrten die Engländer gründlich, als sie aufgrund nachrichtendienstlicher Erkenntnisse bis Ende 1944 ernsthaft daran glaubten, Deutschland stehe ganz kurz vor einem politischen Kollaps in Analogie zum Jahr 1918. Vorteilhaft wirkte sich für den englischen Geheimdienst aus, daß man bereits im Krieg 1914 bis 1918 erkannt hatte, welche nützlichen Erkenntnisse ein perfektioniertes System der Gefangenenausforschung einbringen konnte. Günstig war ebenso, daß Premierminister Churchill ein ausgesprochenes Faible für Geheimdienstarbeit besaß, die Nachrichtendienste beständig förderte und intensiv deren Analysen studierte und in seiner politischen Tätigkeit berücksichtigte. Falko Bell hat ein wissenschaftliches Werk verfaßt, das Maßstäbe in der Geheimdienstforschung setzt.

Falko Bell : Britische Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Schöningh Verlag, Paderborn 2016, gebunden, 410 Seiten, 44,90 Euro