© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Wenn der Name zur Marke wird
Fritz Wunderlich, der Unvollendete: Zum 50. Todestag des großen deutschen Tenors
Jens Knorr

Das Edinburgh-Gastspiel der Staatsoper Stuttgart war zu Ende gegangen, dreimal hatte er den Tamino gesungen und einen Liederabend in der Usher Hall gegeben, der legendären Ruf erlangen sollte. Zurück in München, hatte er noch Schallplattenaufnahmen gemacht. Als nächste Aufgabe stand Don Ottavio an der Metropolitan Opera, New York, an, davor lagen fünf Tage Jagdurlaub im Landhaus eines befreundeten Ingenieurs.

In der Nacht zum 17. September 1966 stürzt er auf der Treppe zu seinem Schlafzimmer im Kellergeschoß über einen ungebundenen Schnürsenkel, fällt mit dem Kopf auf die Steinfliesen und erleidet einen Schädelbruch mit Hirnquetschung. Ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben, stirbt in einer Heidelberger Klinik, eine knappe Woche vor seinem 36. Geburtstag, der bedeutendste deutsche Tenor nach dem Zweiten Weltkrieg, der bedeutendste deutsche Tenor bis heute: Fritz Wunderlich

Allein schon seiner lächerlichen Umstände wegen taugt der Unfall kaum zu Legendenbildung. Nachher sind Handlungen Wunderlichs zu Zeichen aufgeladen worden. Aber da ist keine frühe Vollendung zu vermelden, keine Todesahnung des Genies, es sei denn, man nähme Wunderlichs makabren Scherz, auf Autogrammbildern „in memoriam“ zu unterschreiben, für bare Münze. Doch sind da in seinem letzten Jahr gehäuft Klagen über Erschöpfung, ist gegenüber dem Sängerkollegen und Freund Hermann Prey die Rede von Krise und der Vorsatz, nunmehr anders und reflektiert mit Potenzen und Kräften umgehen zu wollen. Erschöpfung ist dem Sänger des „Letzten Konzerts“, dem von Edinburgh, kaum anzuhören, kein Requiem, sondern frohe Botschaft: es markiert eine neue Stufe in der Karriere des Sängers und einen Höhepunkt in seiner Auseinandersetzung mit den Liedern von Beethoven, Schubert und Schumanns Zyklus „Dichterliebe“. „Wir waren so beeindruckt und zugleich aufgewühlt“, schreibt Wunderlichs Stuttgarter Kollegin Hetty Plümacher, die den Liederabend gehört hatte, 1989 in einem Brief an den Biographen Werner Pfister, „daß wir auf dem Heimweg in eine nahe gelegene Kirche gingen, um uns zu beruhigen. Beide hatten wir das Gefühl, etwas Außergewöhnliches erlebt zu haben.“

Im Stile verschiedener Genres und Epochen

Friedrich Karl Otto Wunderlich wird am 26. September 1930 im pfälzischen Kusel geboren. Der Vater stammt aus Thüringen, die Mutter aus dem Erzgebirge, beide sind ausgebildete Musiker. Sie betreiben die Gastwirtschaft „Emrichs Braustübl“ und das angeschlossene „Central-Kino“. Als Fritz fünf Jahre alt ist, nimmt sich der Vater das Leben. Der Sohn muß zum Familienunterhalt beitragen, spielt Akkordeon und Horn und mit Mutter und Schwester zum Tanz auf.

Der Musiklehrer im Gymnasium, es ist der Musikwissenschaftler Joseph Maria Müller-Blattau, entdeckt Wunderlichs Stimme und vermittelt ihn an die Freiburger Musikhochschule. Wunderlich belegt die Fächer Horn und Gesang, letzteres bei Margarethe von Winterfeld, und debütiert offiziell 1954 in einer Hochschulaufführung als Prinz Tamino, der seine Schicksalsrolle werden wird. Sein Studium, das mehrmals wegen Geldproblemen vor dem Abbruch steht, finanziert er mit Konzerten, aber auch mit Auftritten als Unterhaltungsmusiker.

Von der harten Freiburger Ausbildung her rühren Wunderlichs Fähigkeit, seinem Singen die Stile verschiedener Genres und Epochen anzuverwandeln, vom Schlager bis zum Kunstlied, vom Barock bis zur Moderne, sein Arbeitsethos, „eine Intensität bis zur existentiellen Gefährdung durch Selbstverausgabung“ (Werner Pfister). Von der harten Kindheit und Jugend in Armut rühren Wunderlichs ausgestellter Anti-Intellektualismus, die angeschaffte Maske des tumben Naturvogels mit nachlässig verknoteten Schnürsenkeln, der singt, weil ihm der Schnabel hold gewachsen, und wohl auch sein Verhältnis zu Geldverdienen und -ausgeben. Der Mann hat nicht vergessen, woher er gekommen! Und der Mann hat seine Lektion gelernt: Gesangstechnik muß Ausdruck werden und Ausdruck gesangstechnisch gesichert sein. Die vielgerühmte Natürlichkeit des Singens ist ja nichts anderes als der Höreindruck, daß Technik und Ausdruck des Singens zur Deckung gekommen wären.

Walter Erich Schäfer, Intendant der Stuttgarter Oper, gibt dem Hochschul-Tamino einen Anfängervertrag, der darf in einer Repertoirevorstellung für den erkrankten Josef Traxel einspringen, wiederum als Tamino, und besteht. Der junge lyrische Tenor entwickelt sich zu einer der Stützen des Ensembles, gastiert in Aix-en-Provence, Brüssel, Edinburgh.

Den internationalen Durchbruch bringt die Partie des Henry Morosus in der „Schweigsamen Frau“ von Richard Strauss bei den Salzburger Festspielen 1959. Ein Jahr später ist Wunderlich festes Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper München, ab 1963 der Wiener Staatsoper. Angebote und Anfragen häufen sich, die Rollenauswahl wird skrupulöser, die Rollenporträts werden eindringlicher, die Ansprüche an sich selbst höher. In Hubert Giesen findet Wunderlich einen Pianisten und Liedbegleiter, der mit ihm intensiv arbeitet. „Am Lied erkenne ich, ob ich singen kann.“ Zu dem Opern- und Konzertsänger tritt der ernstzunehmende Liedinterpret. Eine Weltkarriere bahnt sich an ...

Die Bedeutung Wunderlichs für die Geschichte des Gesangs ermißt sich allein schon daran, daß nicht wenige Tenöre nach Wunderlich als „neuer Wunderlich“ herausgestellt worden sind, bis sich zeigen mußte, daß sie selbstverständlich nicht geworden waren, was sie nicht werden konnten. Der Name Wunderlich ist zum Synonym für einen bestimmten Stimmcharakter geworden, wie die Namen Caruso oder Callas für den ihren geworden waren – und zu einer Marke. Dabei wird leicht unterschlagen, daß dieser sich stetig vervollkommnende Sänger keineswegs vollkommener Sänger war, unvollkommen nach seinen eigenen Maßstäben.

Mit besessener Arbeit Begrenzungen verschoben

Das diskographische Erbe ist umfassend, angefangen von Wunderlichs Tätigkeit als Unterhaltungsmusiker, inklusive Trompetensolo oder Pfeifeinlage, bis hin zu Aufführungsmitschnitten, die aus den Archiven ausgegraben und auf CD gebannt werden. Bei vielen Sängern muß man, will man sie im Vollbesitz ihrer stimmlichen Mittel hören, auf die frühen Aufnahmen zurückgreifen. Nicht so bei Fritz Wunderlich! Anhand der seinen läßt sich die stetige Entwicklung des Sängers fast lückenlos rekonstruieren und lernen, wie mit sängerischer Intelligenz sowie kontinuierlicher, besessener Arbeit einem Lied, einer Arie, einer Rolle immer feinere Nuancen abgerungen, stimmliche und technische Begrenzungen immer weiter verschoben werden können.

Es erweist sich auch hier, daß Kunstausübung ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration ist. Fritz Wunderlichs Aufnahmen in brutaler Chronologie zu hören, das ist eine Schule des Singens – der Verfasser empfiehlt das seinen Studenten. Von einigen unbekümmert hingerotzten, gleichfalls überrumpelnden, Aufnahmen aus den Fünfzigern bis zu den reifen, klassisch gewordenen sind es eigentlich nur zehn Jahre, und doch trennen sie Welten. Welche Flachheit in einigen frühen Aufnahmen für den Europäischen Phonoclub und welche nicht wieder erreichte Durchdringung der Partien in den sechziger Jahren! Sein Belmonte unter Eugen Jochum, sein Tamino unter Karl Böhm, sein Hans (Jeník) in Smetanas „Verkaufter Braut“ unter Rudolf Kempe, sein Palestrina unter Heger, sein Evangelist in der „Matthäuspassion“, seine späten Liedaufnahmen, allesamt Tondokumente hohen Ranges, gehören in jede Sammlung.

Gewiß ist in einigen Aufnahmen, auch den geglückten, eine strapazierte, bisweilen überstrapazierte Stimme zu hören. Die unbeantwortbare Frage aber, ob der lyrische zu einem jugendlichen Tenor hätte reifen können, wenn ihm die Zeit geblieben wäre, bringt vor allen anderen vielleicht die Aufnahme von Mahlers „Lied von der Erde“ unter Otto Klemperer, 1965 entstanden, einer Antwort näher. Die drei Tenorlieder erfordern eine junge lyrische Stimme, die um die Vergänglichkeit der Jugend, und eine heldisch ausladende, reife, die um die Vergeblichkeit aller Siege weiß. Dieser Tenor hat beide Stimmen. Fritz Wunderlich mit Mahler, das ist der Ernstfall.

Das Gefühl existentieller Einsamkeit scheint den Familienmenschen, Vater dreier Kinder, besten Freund Hermann Preys, gelehrigen Sohn seines Wahlvaters Gottlob Frick, den Münchner aus dem „Provinznest“ Kusel nie verlassen zu haben. Noch in der auftrumpfenden Gebärde von Schlagern wie „Granada“ oder „Bella Italia“ schwingt eine unnennbare Traurigkeit mit, der die Gebärde abgerungen worden ist. Der Hörer soll sie nicht merken, aber er merkt sie doch.