© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Ein Krieg, den keiner so nannte
Bundeswehr in Afghanistan nach 2001 – Teil 2: Ein militärischer Hilfseinsatz läuft aus dem Ruder
Gregor Mauer

Ab Mitte 2005 wurde Afghanistan in vier Sicherheitszonen aufgeteilt, die jeweils von einer Nation geführt wurden. Deutschland und somit die Bundeswehr war nun für den gesamten Norden des Landes (mit neun Provinzen) und 16 Isaf-Nationen zuständig, was durch den Bundestagsbeschluß vom 28. September 2005 mandatiert wurde. 

Die Region, halb so groß wie Deutschland, ist sehr gebirgig und somit nur sehr schwer zugänglich. Hinzu kamen das Fehlen vernünftiger Verkehrswege sowie staatlicher Strukturen wie auch ein nicht unerhebliches Eskalationspotential lokaler Konflikte. Neben Kunduz waren Faisabad und Mazar-i-Sharif, wohin das deutsche Isaf-Kontingent von Kabul verlegte, wichtige deutsche Stützpunkte. Die Lage verschlechterte sich ab 2006 weiter, waren doch Teile der Provinzen Kunduz und Baghlan frühere Taliban-Hochburgen. 

Damit veränderten sich für die Bundeswehr neben dem Umfeld zwangsläufig auch ihr Kräfteansatz und die Einsatzformen. Konnte Isaf zu Beginn noch als eine Art friedenssichernder Einsatz mit robustem Mandat interpretiert werden, so wurde die Bundeswehr ab 2006/07 mit einer deutlichen Intensität von Talibanmaßnahmen meist in Form von Anschlägen konfrontiert. Immer stärker wurden die deutschen Soldaten das Ziel hinterhältiger Selbstmordattentate. So fielen am 19. Mai 2007 auf dem Markt von Kunduz drei Bundeswehrsoldaten und sieben afghanische Zivilisten einem Selbstmordattentäter zum Opfer. Am 27. August 2008 geriet eine Patrouille in der Nähe von Kunduz in eine Sprengfalle, ein Hauptfeldwebel erlag seinen Verwundungen, drei weitere Soldaten wurden verletzt. Und nur knapp zwei Monate später hatte bei einem Sprengstoffanschlag wiederum in der Nähe von Kunduz ein Selbstmordattentäter zwei Bundeswehrsoldaten mit in den Tod gerissen. Zudem kamen bei diesem perfiden Anschlag auch fünf in der Nähe spielende Kinder ums Leben. 

Nach 2007 gab es erst Anschläge, später Gefechte 

Nachdem Verteidigungsminister Franz Josef Jung im März noch den ersten Spatenstich für die neue Start- und Landebahn des Flughafens von Mazar-i-Sharif getätigt hatte, eskalierte ab April 2009 die Lage dann in einigen Teilen der deutschen Verantwortungsregion in Form kriegerischer Auseinandersetzungen (Gefechte und Guerillaaktivitäten) weiter. Damit standen deutsche Soldaten erstmals in der Geschichte der Bundeswehr, die nun nur noch in geschützten Fahrzeugen wie dem „Dingo“ unterwegs war, in massiven Bodenkämpfen. Sie fügten dem Gegner zwar erhebliche Verluste zu, hatten allerdings selbst eine zunehmende Zahl an Gefallenen und Verwundeten zu beklagen. 

Während dieser Gefechte kam es auch zum Einsatz des Schützenpanzers „Marder“ sowie zu Luftunterstützung mit Bombeneinsatz – nach wie vor mit dem Ziel, zivile Opfer möglichst zu vermeiden. Auf die veränderte Sicherheitslage war seitens der Bundeswehr schon ab April 2007 zusätzlich mit dem Einsatz von „Tornados“ reagiert worden, um innerhalb von Isaf im Bereich der Aufklärung auch über eine von den USA unabhängige Komponente zu verfügen. Über diese Maßnahme wurde mehrere Monate lang politisch besonders intensiv und kontrovers diskutiert, allerdings letztlich aufgrund der Bündnissolidarität zugestimmt. Ab 1. Juli 2008 übernahm Deutschland von Norwegen das Kommando über die „Quick Reaction Force“ für die Nordregion Afghanistans. 

Auch damit wurde zum einen auf die verschärfte Sicherheitslage reagiert und zum anderen die Bereitschaft signalisiert, sich wirksamer als bisher zu engagieren. Dieser Schritt beruhte nicht auf einem Beschluß des Bundestages, sondern wurde nur von der Bundesregierung entschieden, nachdem von seiten der Nato eine entsprechende Bitte geäußert worden war, vor allem von US-Verteidigungsminister Robert Gates. Heftige Auseinandersetzungen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in der Politik waren die Folge. Zudem erreichte die Bedrohungslage in den kommenden Monaten einen neuen Höhepunkt. 

Als Folge erhöhte die Bundesregierung im Oktober die Obergrenze des deutschen Kontingents auf 4.500 Soldaten, die jedoch immer stärker in Gefechtshandlungen verwickelt wurden und weitere Opfer zu beklagen hatten, wie beispielsweise am 23. Juni 2009, als drei Angehörige des Panzergrenadierbataillons 391 aus Bad Salzungen und des Fallschirmjägerbataillons 263 aus Zweibrücken während eines Feuergefechts mit den Taliban mit ihrem Transportpanzer „Fuchs“ in einen tiefen Wassergraben stürzten. 

Dramatischer Höhepunkt war dann das Karfreitagsgefecht am 2. April 2010, als auf eine Patrouille des Fallschirmjägerbataillons 373 aus Seedorf in der Nähe von Kunduz überlegene Kräfte der Taliban das Feuer eröffnen. Drei Soldaten fielen, sechs weitere wurden zum Teil schwer verwundet. Und wenige Tage später am 15. April fielen bei einem Sprengstoffanschlag abermals drei deutsche Soldaten, fünf weitere überlebten den Anschlag schwer verletzt. 

Spätestens jetzt war eigentlich für jeden klar: Die Bundeswehr befand sich, wenn auch nicht formal, so doch faktisch im Krieg. Daß von seiten des Verteidigungsministeriums hier aus diplomatischen Gründen nicht klare Worte gefunden wurden, mag nachvollziehbar gewesen sein. Dennoch, als ein Stabilisierungsbeitrag konnte der deutsche Einsatz schon lange nicht mehr gelten. 

Viele Soldaten fühlten sich von der unklaren politischen Bewertung ihres Einsatzes verunsichert und auch im Stich gelassen. Sie waren es schließlich, die in ihrem Feldlager bei Raketenangriffen in die Unterstände eilten, sich auf Patrouillen durch Hinterhalte kämpfen mußten, in Gefechte gerieten und dies alles mit Fug und Recht als Krieg empfanden. Daß diese Dinge dann auch beim Namen genannt wurden, ist aus soldatischer Sicht mehr als nachvollziehbar.