© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/16 / 16. September 2016

Oldtimer für jedermann
Adler, Bismarck, Rheingold, Vaterland – Drahtesel-Klassiker haben ihre treuen Fans
Bernd Rademacher

Oldtimer faszinieren: Leder, Chrom und Messing statt Plastik; geschwungene Bleche in vollendeter Ästhetik. Oldtimer sind nicht nur Fahrzeuge, sondern Lebensgefühl, Individualität und Absage an den Zeitgeist. Leider sind PS-Klassiker ein sehr kostspieliges Vergnügen. Doch auch wer sich kein Auto mit H-Kennzeichen leisten kann und sich aufs Schrauben an einer AWO nicht versteht, muß nicht aufs Oldtimerfahren verzichten: Fahrräder der Baujahre 1900 bis 1960 finden immer mehr Liebhaber – und sind bereits für kleine dreistellige Summen zu haben.

Räder längst vergessener Marken wie Adler, Bismarck, Hercules, Mammut, Minerva, Rheingold, Vaterland oder Wanderer kommen aus Scheune oder Keller wieder auf die Straße. Der Markt für Fahrrad-Klassiker boomt. Auch neu produzierte alte Marken sind schwer angesagt: Ein „Weltrad“ aus Schönebeck (Elbe), ein englisches „Pashley“ oder ein „Erenpreiss“ aus Riga finden heute als Edelräder ihre jungen, hippen (und solventen) Großstadtkäufer.

Nach oben gibt es auch bei den alten Originalen keine Preisgrenzen: Ein britisches Safety-Fahrrad von 1882 wird auf einem Sammlermarkt im Internet für mehr als 4.000 Euro angeboten. Gesucht werden originale Lenkergriffe, Pedalklötze, Sättel, Werkzeugtaschen, Mantelschoner – und vor allem Klingeln. Klingeldeckel mit Originalbeschriftung erzielen Höchstpreise. Ersatzteile sind für nostalgische Fahrräder einfacher zu bekommen als für Kfz-Oldtimer, doch einfach ist die Restaurierung auch bei den Zweirädern nicht: Die damals verbreitete Methode, den Rahmen durch geflammte Lackstellen zu verzieren, wird heute kaum noch beherrscht.

Wer das Alu-Mountainbike mit Gelsattel und 21 Gängen gegen ein Miele-Rad von 1949 eintauscht, erlebt ein völlig anderes Fahrgefühl: Die Stempelbremse zu ziehen ist echte Handarbeit, bringt aber kaum Bremsleistung. Der Dynamo wiegt wohl ein halbes Kilo, produziert aber nur wenig funzeliges Licht. Gangschaltung? Fehlanzeige. Bei Steigung ist tüchtiges Strampeln angesagt. Das Gefühl der Großelterngeneration bei „Hamsterfahrten“ über Land in den Nachkriegsjahren wird auf so einer Rarität plastisch erlebbar. Von Passanten erntet man viele bewundernde Blicke.

Dem rollend-beschwingten Nostalgiegefühl haben sich zahlreiche Vereine verschrieben. Der größte ist der „Historische Fahrräder e. V.“ mit über fünfhundert Mitgliedern und Hauptsitz in Dresden. Dem Club gehört die Mehrheit der deutschen Sammler historischer Velozipede an. Regionale Ableger haben sich in Berlin, Elmshorn bei Hamburg, Münster und am Bodensee gegründet. Die Mitglieder widmen sich der „Pflege und Förderung der Fahrradkultur“. Dazu unternehmen sie regelmäßig Klassik-Rallyes wie die „Velocipediade“, natürlich in nostalgischer Kleidung: Knickerbocker und Schiebermütze sind das Mindeste. 

Pflege und Förderung der Fahrradkultur

Die diesjährige Velocipediade fand gerade in Erfurt bei strahlendem Wetter statt und war nicht nur eine „Oha“- und „Mensch, guck mal hier!“-Attraktion für Passanten, sondern auch der Jahreshöhepunkt für die Sammler- und Fanszene. Wer sie verpaßt hat, tröste sich: Auch beim Wintertreffen im Februar kann munter gefachsimpelt werden! Jahreszeitenunabhängig sind und bleiben heiß begehrt das Sondermodell „Sieger der Deutschland-Rundfahrt 1950“ von Bismarck oder das „Mifa“-Rad aus DDR-Produktion. Eine eigene Klasse sind die Fahrräder mit Hilfsmotor wie das deutsche Rex aus den Fünfzigern, mit Vorderrad-Riemenantrieb und 0,5 Liter-Tank auf dem Lenker.

Der Verein gibt auch die Zeitschrift Der Knochenschüttler heraus. Das Mitgliederjournal erscheint zweimal jährlich kostenlos und wird durch die Mitgliedsbeiträge finanziert. Das Magazin erzählt viele spannende Kapitel der Velogeschichte, zum Beispiel über die Einführung von Fahrrädern bei der Polizei mit vielen historischen Fotos. Eine besondere Geschichte ist die vom „Fahrraddieb“, der das Rad nach 64 Jahren zurückgab: Ein junger deutscher Soldat hatte 1945 nur noch einen Wunsch: nach Hause! In den letzten Kriegstagen klaute er im holländischen Nijmerk ein Rad, das an der Kirche lehnte, um darauf ins Münsterland zu strampeln. 2009 ersetzte er der Kirchengemeinde das Zweirad.