© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

„Es braucht keine AfD“
Nach den Niederlagen von Schwerin und Berlin sehen sich CDU-Konservative wie Veronika Bellmann bestätigt. Die Kanzlerin ist auf dem Irrweg, und die neue Konkurrenz wäre vermeidbar gewesen
Moritz Schwarz

Frau Bellmann, vertrauen Sie Ihrer Parteivorsitzenden noch?

Veronika Bellmann: Vertrauen? Wissen Sie, ich habe – wohl wegen meiner DDR-Erfahrung – sozusagen von Natur aus eine kritische Distanz zu jeder Art von politischer Führung.

Trauen Sie ihr das zu?

Bellmann: Ich habe große Achtung vor vielen Leistungen Angela Merkels. Anfangs fand ich es wie bei der Energiewende schlau, dem politischen Gegner die Themen wegzunehmen, um Zustimmungswerte in der Wählerschaft zu erhöhen. Aber schon wenig später habe ich einsehen müssen, daß das der Union das konservative Profil kostet und zu einer gewissen Beliebigkeit führt. Das hat mein Zutrauen sehr geschmälert.

Ein politisches Profil, dem Sie sich zugehörig fühlen? 

Bellmann: Ja, deshalb gehöre ich seit einigen Jahren dem konservativen „Berliner Kreis“ in der Union an. Die Unionsführung mit Frau Merkel an der Spitze ist konservativen Standpunkten gegenüber weniger aufgeschlossen. Ich erinnere mich an die Patriotismus- und Leitkultur-Debatte vor einigen Jahren, die zu führen die Kanzlerin merklich keine Lust hatte.

Sie müssen also eine Parteivorsitzende unterstützen, von der Sie sich nicht wirklich repräsentiert fühlen. Wie „funktioniert“ das für Sie als Konservative in der Union?

Bellmann: Die CDU ist Volkspartei, und die Konservativen sind nur ein Teil davon. Wenn auch wenig konservativ und patriotisch, so hatte Angela Merkel bisher ein Gespür für Mehrheitsstimmungen. Das gab Hoffnung, daß sie zu Kurskorrekturen fähig ist. 

Zeigt die Flüchtlingskrise nicht, daß ihr genau dieses Gespür abhanden gekommen ist?

Bellmann: Einige wichtige Kurskorrekturen haben wir mit den Asylpaketen und dem Integrationsgesetz ja hinbekommen, aber die dazugehörigen Sprachkorrekturen gab es nicht. Die grundsätzlichen Eingeständnisse der Kanzlerin nach der verlorenen BerlinWahl zu Fehleinschätzungen, kurzfristiger Überforderung und Kontrollverlust im Lande waren für Frau Merkels Verhältnisse schon ein großer Schritt, aber daß die Öffnung der Grenzen eine Fehlentscheidung war, mit diesem Eingeständnis tut sie sich noch schwer. 

Sie haben unlängst ironisch kritisiert, die Kanzlerin höre offenbar nur noch „das Rauschen der Ostseewellen“. 

Bellmann: Damit meinte ich, daß sie zu vollkommen von ihrem Mantra „Wir schaffen das“ überzeugt war, daß sie die Realität um sich herum nicht mehr wahrgenommen hat. Daß ihr dieser Satz nun bei jeder Gelegenheit um die Ohren fliegt, ist ihr ja nun schon selbst zuwider. Das liegt aber daran, daß sie nicht erklären konnte, wer „wir“ und was „das“ ist. Frau Merkel hat die „Brücken“ nicht beschritten, die ihr die Ereignisse – Silvester in Köln, Schließung der Balkanroute, Anschlag von Würzburg und von Ansbach, sowie die Proteste in den EU-Nachbarstaaten und unserer Bevölkerung gegen ihre Flüchtlingspolitik – geboten haben, um ihre Entscheidungen zu korrigieren. Sie schenkt der Notwendigkeit konservativer Grundsätze in der Unionspolitik kaum Beachtung. Was dazu geführt hat, daß die AfD das Vakuum im politischen Mitte-Rechts-Raum füllt. Das waren letztendlich alles „Geburtshilfen“ für die AfD, deren Stimmen ihrerseits nun auch noch Rot-Rot-Grün in den Sattel heben. Übrigens, die Wähler, die heute zu Recht die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin kritisieren, können sich hier unter Rot-Rot-Grün gerade in Sachen Multikulti, Asylpolitik und Selbstverleugnung der Deutschen auf Schlimmeres gefaßt machen. Bestes Beispiel sind die dauernden Blockaden bei der Anerkennung der nordafrikanischen Staaten als sichere Herkunftsländer. 

Anders handeln als reden – also ist Merkel opportunistisch, nicht moralisch?

Bellmann: Sie verkennt, daß die meisten Bürger so den Umschwung in ihrer Politik gar nicht mitbekommen haben. Die Asylpakete, das Integrationsgesetz, die verschärfte Abweisungspraxis an den Grenzen und auch die zwar nur langsam, aber stetig steigende Zahl an Abschiebungen zumindest in den unionsgeführten Ländern sind nur kleine Schritte in die richtige Richtung. Kurskorrektur ohne Sprachkorrektur geht aber eben nicht. Das heißt, Politiker können und sollten Fehler eingestehen, damit aber nicht zu lange warten. Sonst ist weder ihre Kurs- noch Sprachkorrektur glaubhaft. 

Viele hatten lange Respekt vor Merkels Führungsstil, lobten ihr „auf Sicht fahren“ als pragmatisch – beklagen sich jetzt aber, daß sie in der Asylkrise nicht vorausschauender war. Ist das nicht ein Widerspruch?

Bellmann: Durchaus, denn schon früher machte sich bemerkbar, daß etwa dem Kapern der politischen Themen der Konkurrenz kein Konzept folgte. Viele haben sie zum Beispiel für die Entscheidung der Energiewende gelobt – ohne zu sehen oder sehen zu wollen, daß es offensichtlich gar keinen Plan dafür gab, wie diese zu bewerkstelligen sei. Mir persönlich wurde dies noch deutlicher in der Euro-Rettungspolitik: Als es nur darum ging, irgendwie mit dem Problem klarzukommen, ohne länger die Regeln und Grundlagen zu beachten, die man sich zuvor in der EU gegeben hatte – konkret die Maastricht-Verträge. Da wurde mir klar: Das kann langfristig nicht gutgehen! Vor allem die offensichtliche Ungleichbehandlung: vom kleinen Mann auf der Straße Gesetzestreue zu erwarten, selbst aber darin kein Vorbild zu sein. Da muß ja bei den Bürgern Groll und Verdruß entstehen, der sich erst mal staut und irgendwann ausbricht. Möglicherweise zu einer anderen Zeit, bei einem anderen Thema. Aber es rächt sich, wenn man seinen Vertrauenskredit verspielt – spätestens am nächsten Wahltag.

Dieser Punkt ist nun die Asylkrise? 

Bellmann: Offensichtlich, und es betrifft nicht nur die Kanzlerin. Die Verantwortung trägt die Bundesregierung, natürlich inklusive der SPD-Minister. Sie setzt sich scheinbar alternativlos über gesetzliche Vereinbarungen im Land  und gegenüber unseren EU-Partnern hinweg. Einsame Entscheidungen zu treffen, dabei zu erklären, nur dieses Handeln sei humanitär, das spaltet die Gesellschaft, das Land und isoliert uns in Europa. Daß unsere EU-Partner in dieser Krise nicht mehr Lasten übernommen haben, liegt eben vermutlich auch daran, daß Deutschland ihnen gegenüber ein „Moralmonopol“ proklamiert und sich damit selbst isoliert hat. Da hilft es auch nicht, wenn Vizekanzler Gabriel und seine SPD sich jetzt allzu offensichtlich von Merkel distanzieren, sich vom Acker machen und obendrein als „Verlierersieger“ von Mecklenburg-Vorpommern und Berlin für die Stimmverluste in der SPD reflexartig die CSU verantwortlich machen. Die CSU ist die einzige Regierungspartei bisher, die den Finger in die Wunde gelegt hat. Viele AfD-Wähler gaben deshalb auch an, sie würden lieber CSU wählen, wenn es die Partei bundesweit gäbe.

Warum kann Ihrer Meinung nach die De facto-Einwanderungspolitik der Kanzlerin nicht funktionieren?

Bellmann: Weil sie nicht vom Ende her gedacht hat. Mit Sicherheit hat Angela Merkel all die eingetretenen negativen Effekte nicht gewollt! Aber sie hätte erkennen müssen, daß man eine massenhafte illegale – übrigens auch eine massenhafte legale – Einwanderung aus einem anderen Kulturkreis mit unserem differenzierten Rechtssystem, mit unseren hohen Standards und unseren sozialen Sicherheiten, die ein riesiger Anreiz sind und große Sogwirkung entfalten,  nur schwer bewältigen kann. Es hat sich ja der Eindruck verfestigt, Deutschland sei asylpolitisch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Außerdem: Die unseren Werten, unserer Kultur und unseren Regeln diametral gegenüberstehenden islamischen Traditionen – von den Bekleidungsvorschriften über Kinder- und Vielehen, fehlender Gleichberechtigung bis hin zur fehlenden Trennung von Staat und Religion usw. – unter den Schutzmantel der Religionsfreiheit zu stellen überdehnt dieses Grundrecht. Minderheiten dürfen nicht diskriminiert werden, aber sie dürfen die Mehrheitsgesellschaft auch nicht dominieren, denn das spaltet die Gesellschaft. In diesem Zusammenhang hat mein Fraktionskollege Arnold Vaatz übrigens einen interessanten Aspekt benannt: Demnach ist der Islam strenggenommen keine Religion, sondern eine Kleriokratie. Meint: Dadurch, daß er mit seinen Glaubensnormen auch Rechtsnormen aufstellt zu denen ein eigener Sanktionsmechanismus gehört, ist er nicht einfach ein Gottesglaube, sondern ein Rechtssystem, was nicht primär unter den Schutz der Religionsfreiheit gestellt werden muß. 

Was fordern Sie?

Bellmann: Daß sich, wer zu uns kommt, integrieren, und wer dauerhaft bei uns bleiben will, sich langfristig assimilieren sollte. Das bedeutet nicht, seine Kultur und Religion aufzugeben, aber sich schließlich in erster Linie als Deutscher zu verstehen, das Grundgesetz und unser Rechts- und Normensystem als vorrangig vor jeglichen religiösen Vorschriften zu akzeptieren. Einen Zustand wie heute, wo etwa 35 Prozent der Türken in Deutschland angeben, für sie rangierten die islamischen Regeln  über den deutschen Gesetzen, halte ich für völlig inakzeptabel. Wenn das so ist, dann sollten sich diese Menschen fragen, warum sie nicht den deutschen Teil ihrer doppelten Staatsbürgerschaft zurückgeben und in das Land gehen, in dem Glaubensregeln das Rechtssystem dominieren. Darüber hinaus fordere ich von uns allen, insbesondere auch den Medienvertretern, daß sie Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes machen und damit möglicherweise nicht dem scheinbar politisch korrekten Mainstream unserer Tage entsprechen, nicht vorverurteilen. Und wir sollten die Zeit, in der weniger Migranten kommen, zur Konsolidierung der Strukturen nutzen. Also die Grenzen schließen, bis gemäß des Schengen-Vertrages die EU-Außengrenzen sicher sind, und geltendes Recht umsetzen. Wir brauchen ein neues Asylrecht und zwar nur im Rahmen des allgemeinen Völkerrechts, das sich an unserer Aufnahme- und Integrationsfähigkeit orientiert, die meines Erachtens weit unter der jährlichen Obergrenze von 200.000 für Bleibeberechtigte liegt. Wir brauchen ein an unseren eigenen gesellschaftlichen Interessen, am Arbeitsmarkt und der demographischen Entwicklung orientiertes Zuwanderungsgesetz. Unsere Entwicklungshilfe sollten wir radikal verändern und auf die Hilfe vor Ort in den Fluchtländern konzentrieren. Denn eine solche Völkerwanderung wie im letzten Jahr verkraftet Deutschland nicht noch ein zweites Mal. 

Wie gefährlich ist die AfD für die CDU tatsächlich?

Bellmann: Sie ist natürlich eine erhebliche Konkurrenz. Allerdings hat alles immer auch ein Gutes: So kann man nicht behaupten, daß Deutschland länger der entpolitisierte Raum ist, als den es Beobachter vor kurzem noch kritisiert haben. Was sich auch darin äußert, daß die Wahlbeteiligung wieder steigt. Wenigstens das ist aus Sicht der Demokratie erfreulich.

Könnte die AfD für die Union auch eine Chance sein?

Bellmann: Inwiefern?

Ein ehemals führender CDU-Landespolitiker aus Berlin hat die Möglichkeit einer Koalition vorgeschlagen. 

Bellmann: Der Gedanke Peter Radunskis, auf den Sie da anspielen, ist so schlecht nicht, denn dahinter steht ja der Plan, die AfD durch Übertragung von Verantwortung zu entzaubern. Das Bild der AfD als eine programmatisch arbeitende Partei ist aber noch sehr diffus, noch zu viele Mitglieder haben ein gestörtes Verhältnis zum Rechtsstaat. Mit einigen ihrer Repräsentanten und Wählern ist aber meines Erachtens eine Zusammenarbeit möglich. Allerdings ist in meiner eigenen Partei derzeit noch so gut wie keiner dazu bereit. Mal sehen, wie das in Schwerin und Berlin wird, wo Union und AfD bald gemeinsam auf der Oppositionsbank sitzen. 

Sie glauben, das wird das Verhältnis ändern?

Bellmann: Wenn, dann wird dieses Tabu in der Union eher von unten nach oben als von oben nach unten bröckeln. Ich meinerseits bin grundsätzlich kein Freund von Tabus. Andererseits: Ich bräuchte die AfD nicht, um die Debatte über bestimmte Tabuthemen wieder in Gang zu bekommen. Von mir aus würden wir in der Union den Diskurs über Fragen wie nationale Identität, kulturelles Selbstverständnis, deutsche Leitkultur als Grundlage unseres nationalen Zusammenhaltes und Migration auch so führen. Und wenn es gelingt, das überzeugend zu tun, und wir auch die Leidenschaft zurückgewinnen, die uns leider vielfach abhanden gekommen  ist – nämlich uns wie 1990 den Themen zu widmen, die die Bürger wirklich bewegen, das war doch der demokratische Impuls der Wendezeit! –, dann braucht es auch keine AfD mehr! Da bin ich mir sicher. 






Veronika Bellmann, ist seit 2002 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und Beisitzerin im Vorstand der CDU/CSU-Fraktion. Die ehemalige Sozialarbeiterin trat 1990 der CDU in Sachsen bei und war Landtagsabgeordnete und Mitglied des Landesvorstandes. Geboren wurde sie 1960 in Chemnitz.

Foto: Bundestagsabgeordnete Bellmann: „Ich fordere von uns allen – insbesondere auch von den Medienvertretern –, daß sie Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft unseres Landes machen und damit möglicherweise nicht dem scheinbar politisch korrekten Mainstream unserer Tage entsprechen, nicht vorverurteilen.“ 

 

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