© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/16 / 23. September 2016

Wolfgang Streeck. Der linke Denker lobt zum Schrecken vieler den Nationalstaat.
Der Dissident
Nicolaus Fest

Zu größerer Bekanntheit ist der 69jährige Wolfgang Streeck aus Lengerich bei Münster erst am Ende seines beruflichen Wirkens gelangt. Ein Jahr vor seiner Emeritierung veröffentlichte der Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung 2013 ein Buch, das weit über Fachkreise hinaus gelesen wurde: „Gekaufte Zeit“ analysiert die Finanzkrise 2008 im Lichte Frankfurter Kapitalismuskritik.

Daß es damit die Nostalgiebedürfnisse vieler Altlinker befriedigte, mag seinen Erfolg begründet haben, ist aber auch seine größte Schwäche. Selbst Streeck räumte ein, daß der Siegeszug der Konsumgesellschaft sowenig mit Legitimationsdefiziten zusammengeht wie weitgehend streikfreie Zeiten mit angeblich immer schärferen Verteilungskonflikten. Vor allem aber unterstellt die Kritische Theorie eine Frontstellung zwischen Kapitalismus und demokratischen Institutionen, die es – man nehme nur die Seitenwechsel von Barroso, Schröder, Monti oder Draghi – längst nicht mehr gibt. Auch die tätige Hilfe der Politik bei der Deregulierung der Finanzwelt ist im Frankfurter Denken nicht vorgesehen. So wirkt die Krise des Kapitalismus eher wie eine des Charakters; nicht „Gekaufte Zeit“ ist das Problem, sondern gekaufte Politik. 

Seine provokative Kraft zog Streeck daher auch nicht aus der These von der sequentiellen Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, sondern aus der Attacke auf den Brüsseler Marktradikalismus und das „frivole Experiment des Euro“. Die Einheitswährung sei ein neoliberales Unglück, das die Völker spalte, zu unlösbaren Konflikten führe und die Sozialstandards unterminiere; es sei daher besser, die Währungsunion zu beenden und zum Nationalstaat zurückzukehren. Denn nur dort ließen sich Demokratie und soziale Errungenschaften gegen die Finanzmärkte verteidigen. 

Daß ausgerechnet ein linker Gesellschaftstheoretiker die „sakralisierte EU“ zum Ziel seiner Kapitalismuskritik machte, hat dem früheren SPD-Mitglied die Feindschaft einiger Leute eingebracht, zu denen vernünftigerweise keine andere Beziehung möglich ist. Als Streeck kurz darauf die Willkommenskultur als „Mischung aus Sentiment und Selbstgerechtigkeit“ abtat und die Selbstentmachtung des Parlaments durch das „System Merkel“ kritisierte, vertieften sich die Gräben. Die immer zur Denunziation bereite Zeit bezeichnete Streeck als „Sozialnationalisten“, die Süddeutsche schob seine „wahnhaften“ Ausführungen in die Nähe von Pegida und Front National. Auch bei Linken ist herrschaftsfreier Diskurs, nach einem Bonmot Ulrich Schachts, oft weniger beliebt als diskursfreie Herrschaft. 

Der aber will sich Streeck nicht beugen: Statt „demokratischen common sense für rechtsradikal zu erklären“, sei zur „Unterscheidung zwischen wahr und falsch“ zurückzukehren. Das klingt selbstverständlich, ist aber von großer Kühnheit.